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Selbstjustiz an Sexualstraftäter: Denn sie wussten, was er tut

Ein 15-Jähriger tötet einen verurteilten Pädophilen. Mitten in einer Berliner Hochhaussiedlung. Nachbarn, Polizei und Justiz kannten die Neigung des Mannes. Was musste passieren, damit ein Junge zum Mörder wird?

Er war in Sorge, denn der Junge schien endgültig abzustürzen. John, 15 Jahre alt, trank wieder. Er kam nicht mehr ins Jugendhaus, zog sich zurück. Als ein Kollege ihn zusammengekauert unter einer Treppe im Parkhaus liegen sah, entschloss sich Hans Gebler* zu handeln. Der Sozialarbeiter wählte die Nummer des Jugendamts. Er sagte: „Dem Jungen geht es sehr schlecht.“ Es war ein Hilferuf, doch er kam zu spät. Denn da hatte John S., ein zierlicher Junge von 1,63, sich vermutlich schon entschlossen, seinen Nachbarn zu töten.

Nur einen Tag später, es ist ein Donnerstagnachmittag Anfang November, finden Anwohner den 55-jährigen Harry H. vor seinem Haus in Berlin-Spandau. Blutüberströmt liegt er, ein verurteilter Sexualstraftäter, auf der Straße Am Kiesteich. Mehrere Messerstiche in den Oberkörper haben ihn getötet. Die Polizei nimmt John S. wenig später im Treppenhaus des Hochhauses fest. Er soll Harry H. in dessen Wohnung erstochen haben, schwer verletzt ist der Mann noch nach draußen geflüchtet, wo er zusammenbrach. John S. hat gestanden, der Junge sitzt in einem Berliner Jugendgefängnis in Untersuchungshaft. Im schlimmsten Fall drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft. Noch in dieser Woche will die Berliner Staatsanwaltschaft Anklage erheben – wegen Mordes. „Das war Selbstjustiz“, sagt ein Ermittler.

Gebler und seine Kollegen haben die Tragödie nicht kommen sehen, die Harry H. das Leben und dem 15-Jährigen die Zukunft genommen hat. Der Sozialarbeiter mit dem vollen grauen Bart, etwa Ende 50, spricht mit ruhiger Stimme über die Jugendlichen vom Falkenhagener Feld. Das klingt so schön nach Wiese und Blumen und ist doch das Gegenteil: eine Großsiedlung aus hohen Betonbauten. Tausende Apartments, in denen rund 38 000 Menschen leben, am Rande der Stadt – und der Armut. Gebler kannte John seit fünf Jahren, seit der zum ersten Mal an einem Medienprojekt teilnahm, das der Sozialarbeiter im Jugendhaus anbietet.

Der Junge und sein späteres Opfer waren nicht nur Nachbarn, sie kannten sich sogar gut. Wenn Johns Geständnis stimmt, dann hat Harry H. seinen jugendlichen Nachbarn und dessen Freunde sexuell belästigt. Deshalb will John wieder und wieder auf ihn eingestochen haben. „Wenn die Justiz nichts macht, muss ich selbst ran“, soll der Jugendliche in seiner Vernehmung erklärt haben.

Ein 15-Jähriger tötet einen 55-Jährigen. Ein polizeibekannter Kinderschänder stirbt durch die Hand eines Jugendlichen. Es gibt Nachbarn, die offenbar von Harry H.s Neigung wussten, Eltern, denen John S. keine Aufmerksamkeit wert war, und einen Sozialarbeiter, dem sein Schützling langsam entglitt. Was muss passieren, damit ein Jugendlicher zum Mörder wird?

Die Wohnung von Harry H. liegt in einer Plattenbausiedlung. Sein Apartment war die Nummer 54, eine Parterrewohnung in einem elfstöckigen Hochhaus, am Ende eines schäbigen Flures mit beschmierten Wänden und zerstörten Briefkästen. Wenige Tage nach der Tat dringt durch den herausgebrochenen Spion ein muffiger Geruch in den Flur. Die Wohnung, die durch das kleine Loch zu sehen ist, sieht nicht gerade nach einem geborgenen Zuhause aus. Und doch scheint sie John S. und anderen Jugendlichen etwas gegeben zu haben, das sie in ihrer eigenen Familie nicht finden konnten.

„Ein- und ausgegangen“ seien die Jungen bei Harry H., sagt ein Ermittler. Sie spielten dort an einer Playstation, bekamen Alkohol und Zigaretten, „sie durften alles“. Bei John hätten vor allem Bier und Schnaps als Lockmittel gewirkt. Der Junge, der viel Wert auf sein Aussehen legte, sich die die Haare gelte und gern Parfum benutzte, konnte zu jeder Tages- und Nachtzeit klingeln, war immer willkommen.

Dass er Kinder zu sich einlud, war ein offenes Geheimnis

Renita Donat, seit 22 Jahren Leiterin der Kinderfreizeitstätte „Treffpunkt“, kennt viele Geschichten der sozialen Armut, die sich in der Anonymität der Hochhaussiedlung abspielen. Es gebe Kinder, die erzählten, dass ihre Mutter jeden Tag bis zum Nachmittag schlafe, sagt sie. Von anderen Kindern wüsste sie, dass die Eltern zwar Geld für Bier und Zigaretten hätten – aber keines für Essen. Sozialarbeiter Gebler sagt: „Viele Jugendliche dürfen vor 20 Uhr abends oder noch später nicht nach Hause kommen und wissen nicht, wo sie hinsollen.“ Sie treffen sich nach der Schule oben auf dem Parkdeck eines stillgelegten Parkhauses oder auf dem Bolzplatz. Wenn es kalt ist und nass, stehen dort nur wenige herum. „Kannste mir Zigaretten holen?“, fragt ein rothaariges Mädchen, vielleicht 13 Jahre alt. Sie zieht einen Fünf-Euro-Schein aus ihrer Hosentasche. „Die Arschlöcher geben mir nichts“, sagt sie und zeigt mit dem Finger auf einen Tabakladen auf der anderen Straßenseite. Der Junge neben ihr spuckt auf den Boden. Er behauptet, dass er Harry H. gut kannte. „Alter, den haben wir immer abgezogen“, sagt er – und will vielleicht nur angeben.

Dass Harry H. Kinder zu sich einlud, war in der Siedlung ein offenes Geheimnis. „Mehrmals kam die Polizei und hat die Jugendlichen aus seiner Wohnung geholt“, sagt die Nachbarin, die mit H. Tür an Tür gewohnt hat. Die Polizei kennt mittlerweile die wildesten Gerüchte über den Toten, dass „Harry 20 Euro zahlt für einmal Blasen“, hat aber keiner der Jungen bestätigt. Geld, die Jugendlichen für sexuelle Dienste zu bezahlen, habe Harry H. ohnehin nicht gehabt. Bevor der Hartz-IV-Empfänger in das Einzimmerapartment zog, lebte er in einem Obdachlosenheim ganz in der Nähe.

Über Johns Familie wissen Freunde und Bekannte nur wenig. Die Beziehung zu seinem Vater soll schwierig gewesen sein, der Junge fühlte sich offenbar nicht geliebt. „Mein Vater beachtet mich nicht“, soll John S. oft geklagt haben. Sprechen will der Vater nicht, schriftliche Anfragen bleiben unbeantwortet. Zu seiner leiblichen Mutter hatte der 15-Jährige keinen Kontakt mehr. Sie dürfe, so heißt es, sich ihrem Sohn nicht mehr nähern. Er habe es immer gemieden, von ihr zu sprechen, sagt Gebler.

Mehrmals pro Woche kam John zu ihm ins Jugendhaus. Es gab ihm das Gefühl, wichtig zu sein, die Erwachsenen hier wurden zu seinen Vertrauten. „Er war ausdauernd und ehrgeizig“, erzählt Gebler. „Anders, als man das von solchen Kindern erwartet.“ In der Schule hätten Johns Leistungen eher zu wünschen übrig gelassen. Wenigstens einmal zu den Gewinnern zu gehören, dafür wollte der Junge kämpfen. „Er hat tagelang an einem Trickfilm gearbeitet und uns alle beeindruckt, weil das Ergebnis so professionell war.“ Im Jugendhaus schrieb er Texte zum Thema Gewalt. Den Betreuern gefielen sie, seine Kumpels aber verspotteten ihn.

John S. akzeptierte die Regeln, die in den Freizeiteinrichtungen gelten. Er wusste, dass er keinen Alkohol trinken und keine Schimpfwörter benutzen durfte. Er hielt sich daran. „Er sehnte sich nach körperlicher Nähe und genoss es, in den Arm genommen zu werden“, sagt Nadine, die nur bei ihrem Vornamen genannt werden will. Gemeinsam mit ihrem Mann arbeitet sie ehrenamtlich für ein Antigewaltprojekt im Jugendhaus. John kannte das Paar, das selbst auch nur von Hartz IV lebt. Er vertraute den beiden, stand oft vor ihrer Tür, bekam ein Glas Orangensaft und Kekse. Sie sprachen über Dinge, die ihn beschäftigten. Irgendwann aber kam John nicht mehr.

Die Bekanntschaft von Harry H. und dem Jugendlichen begann vor etwa eineinhalb Jahren in einem Bus. So jedenfalls erzählt es Gebler. Harry H. lud John zu einer seiner regelmäßigen Partys zu sich nach Hause ein. Auch bei der Halloweenparty am 31. Oktober 2011 war John dabei.

Dass Harry H. Jugendliche begehrte, war Polizei und Justiz bekannt. Im Jahr 2002 wurde er in Dresden wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt. Drei Jahre und sieben Monate saß er deswegen im Gefängnis. 2006 ordnete ein Dresdner Gericht eine Führungsaufsicht an. Harry H. sollte Kinder und Jugendliche nicht mehr zu sich nach Hause einladen, sich Kindergärten und Schulen nicht mehr nähern dürfen. Die Führungsaufsicht endete am 30. Mai 2011. Doch auch während der Jahre unter Aufsicht verstieß H. immer wieder gegen die Auflage.

Die Polizei sprach mit ihm, sein Bewährungshelfer ebenfalls. Immer zeigte Harry H. sich einsichtig, immer wieder wurde er rückfällig. Am Falkenhagener Feld angekommen, suchte Harry H. den Kontakt zu Mitgliedern einer Kirchengemeinde, im sonntäglichen Gottesdienst ließen sie ihn für die Kollekte sammeln. Doch Harry H. fiel auf, weil er ungepflegt war. „Wir haben ihn gebeten, sich saubere Kleidung anzuziehen“, sagt ein Mitglied der Gemeinde. Einer anderen Nachbarin, die ihn mehrmals bei der Essensausgabe der Tafel getroffen hatte, fiel er ebenfalls vor allem aufgrund seines verwahrlosten Zustandes auf: „Er war ungepflegt, trug dreckige Klamotten und stank.“

Eiskalter Mord? Oder blinde Panik? Das wird das Landgericht entscheiden

Dann, im Juni 2011, gab es einen neuen Haftbefehl. Harry H. soll zwei zwölf und 14 Jahre alte Jungen sexuell belästigt und ihnen pornografische Filme vorgespielt haben. Doch als der Fall schließlich vor Gericht landet, widersprechen sich die beiden Opfer. Im November 2011 wird H. freigesprochen. „Wir können keinen Menschen ohne Grund wegsperren oder rund um die Uhr bewachen. Solange nichts passiert, sind uns die Hände gebunden.“ So erklären die Ermittler, warum damals nichts unternommen wurde gegen den Mann.

Also versuchte die Nachbarschaft selbst, ihre Kinder zu schützen. An einer Schule im Falkenhagener Feld war Harry H. Thema der wöchentlichen Kinderschutzrunde, wo Lehrer und Sozialarbeiter darüber beraten, wie sie Kinder vor Missbrauch bewahren können. Die Eltern der Schulkinder erhielten Briefe, in denen vor Harry H. gewarnt wurde. „Ein Mitarbeiter von uns hat sogar persönlich mit ihm gesprochen, dass er die Kinder in Ruhe lassen soll“, sagt der Schulleiter.

Und Harry H.? Machte weiter wie gehabt – bis zum Sommer 2012. Da entschloss sich einer der Jungen, die bei Harry H. ihre Nachmittage verbrachten, zur nächsten Polizeiwache zu gehen. Der Jugendliche erstattete Anzeige und gab zu Protokoll: „Der Harry hat den John betatscht.“ Die Polizei ermittelte, der Vorwurf landete vor Gericht. Harry H. saß als mutmaßlicher Täter auf der Anklagebank, John erschien als das Opfer im Zeugenstand. Zur Überraschung der Prozessbeteiligten weigerte sich John aber hartnäckig, den Pädophilen zu belasten. Der Staatsanwalt fragte nach, die Richterin insistierte, doch der Jugendliche beharrte darauf, dass Harry H. ihm „nur aufs Knie gefasst“ habe. Eine andere Aussage hätte Harry H. angesichts seiner zahlreichen, einschlägigen Vorstrafen höchstwahrscheinlich wieder ins Gefängnis gebracht. So aber blieb der Richterin kaum anderes übrig, Freispruch.

Nachbarn erzählen, dass die Jugendlichen Harry H. häufig aus Wut, Scham und Ekel verprügelt hätten. Vielleicht zeigte einer von ihnen Harry H. deshalb an. Vielleicht hat die Clique aber auch versucht, ihn zu erpressen.

Vielleicht – umso näher die Bluttat rückt, desto mehr scheinen die Ermittler auf Vermutungen und Theorien angewiesen zu sein. Sicher aber ist, dass John sich nach dem letzten Prozess allmählich abkapselte. Den Erwachsenen fiel auf, dass er immer häufiger eine Alkoholfahne hatte. Und wohl auch öfters die Modedroge Ritalin nahm.

Am 1. November 2012 wurde der Jugendliche, der sich in seinem Leben schon so oft als Opfer gefühlt hatte, zum Täter. Und zwar zu einem laut Polizei grausamen und gewissenlosen Täter. Die Ermittler sind überzeugt, dass der 15-Jährige an diesem Nachmittag bei Harry H. klingelte, um ihn umzubringen. Dass er ihn bestrafen wollte. „Die Attacke kam nicht aus heiterem Himmel, war keine Tat im Affekt“, heißt es bei der Staatsanwaltschaft.  

In der Küche griff sich der 15-Jährige demnach den ersten scharfen Gegenstand, den er finden konnte, stellte sein Opfer im Wohnzimmer, stach mehrfach zu, hielt dann ein – um sich ein neues Messer aus der Küche zu holen. „Er hat ihn quasi zappeln lassen.“ Die Staatsanwaltschaft will den 15-Jährigen deshalb wegen Mordes anklagen. Laut Gutachten sei der Junge zum Zeitpunkt der Attacke schuldfähig gewesen.

Nur beweisen müssen die Ankläger ihre Theorie noch. In seinem Geständnis soll John gesagt haben, dass er wiederholt von Harry H. sexuell missbraucht worden sei und nur aus Angst im Prozess gelogen habe. Demnach traute er Polizei und Justiz nicht zu, ihn vor seinem Peiniger zu schützen – und nahm die Sache selbst in die Hand. Eiskalter Mord? Oder blinde Panik? Das wird das Landgericht zu entscheiden haben. Weil der Angeklagte erst 15 ist, wird der Prozess hinter verschlossenen Türen stattfinden.

*Name von der Redaktion geändert

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