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Berlin: Sex in der City

Die Beratungsstelle Pro Familia wird 40 Jedes Jahr suchen dort 20000 Berliner Hilfe

Kondome in der Apotheke kaufen? „Nein, das würde ich mich nicht trauen“, sagt der 16-jährige Tobias. Dann lieber anonym im Kaufhaus welche besorgen oder dezent von Bekannten. Tobias hat eine Freundin, aber über Sexualität zu reden, das fällt dem Jugendlichen aus Tegel schwer. Mit den anderen Jungen und Mädchen aus der 8. Klasse der Julius-Leber-Hauptschule war Tobias am Donnerstag bei Pro Familia. Die Arbeit mit Schulklassen ist ein Schwerpunkt des Sexualberatungsvereins, der am heutigen Freitag sein 40-jähriges Bestehen feiert. Doch aller Aufklärung zum Trotz sei Sexualität auch heute noch für viele Menschen ein Tabu, sagen die Beraterinnen.

40 Jahre Pro Familia – das sind vier Jahrzehnte Einblicke in das Sexual- und Beziehungsleben der Menschen in dieser Stadt. Als der Verein 1964 begann, war Sexualität allenfalls ein Thema in den Schlafzimmern. Pro Familia beriet damals nur Schwangere, die über eine Abtreibung nachdachten. In den 70ern arbeitete der Verein vor allem politisch, er verstand sich als Teil der Frauenbewegung und klärte kritisch über die Pille auf. Ende der 70er widmete sich Pro Familia den Töchtern der ersten Gastarbeitergeneration. In den 80er Jahren verstärkte das Team die Angebote für Jugendliche, in den 90ern kam zur Information über alternative Verhütungsmittel wie das Diaphragma die Aufklärung über Aids-Risiken hinzu.

Noch vor wenigen Jahren seien Jugendliche in Schule und Elternhaus derart intensiv mit dem Thema konfrontiert worden, erinnern sich die Beraterinnen, dass sie bei Pro Familia oft nur abwinkten: Darüber können wir nichts mehr hören. Inzwischen zeigen Jugendliche wieder erschreckende Wissenslücken. Verbreitet sei etwa die Auffassung, Aids sei eine Krankheit wie jede andere, die man mit Medikamenten locker in den Griff kriegen könne. Deswegen hofft der Verein, künftig wieder ein Aids-Jugendprojekt anbieten zu können, das wegen Kürzungen eingestellt werden musste.

„Heutzutage macht die klassische Schwangerschaftsberatung unserer Anfangsjahre gerade noch ein Fünftel der Arbeit aus“, sagt Vereinssprecherin Gundel Köbke. Weil sich die Rollen von Mann und Frau geändert haben, ändern sich auch die Probleme im Zusammenleben. Zunehmend suchen Männer Rat bei Pro Familia, berichtete Mitarbeiter Stefan Lenz. Früher seien sie unangefochtenes Familienoberhaupt gewesen, heute fühlen sich viele Männer verunsichert, auch weil Frauen die Entscheidung, ein Kind zu bekommen, weniger vom Partner abhängig machten. Mancher Mann habe auch wegen beruflicher Überforderung seltener Lust auf Sex, auch diese Situation, sagt Lenz, belaste Männer, die ihrem landläufigen Selbstbild entsprechend „doch eigentlich immer können“. Zunehmend kommen Paare zur Beratung oder Therapie, sagt Mitarbeiterin Monika Häußermann. In Zukunft plant Pro Familia Projekte mit jungen Migranten in Betrieben, zu binationalen Partnerschaften, zu Sexualität im Alter, zur Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen.

Jedes Jahr wenden sich rund 20000 Ratsuchende aus allen gesellschaftlichen Schichten an den Verein mit derzeit 19 zumeist in Teilzeit beschäftigten Psychologinnen, Ärztinnen, Sozialarbeiterinnen und Sexualpädagoginnen. Darunter sind Großeltern in Sorge um die Enkel, streng religiös erzogene Frauen mit Kopftüchern, Homosexuelle im Coming-out. Pro Familia wird derzeit mit 520000 Euro von der Senatsgesundheitsverwaltung gefördert, der Verein muss aber zunehmend Eigenmittel erwirtschaften. Deshalb sind die meisten Leistungen inzwischen kostenpflichtig (siehe Kasten).

Auch Schulklassen müssen einen Obolus entrichten. Sie werden in die Beratungsstelle eingeladen – damit sie eine erste Hemmschwelle überwinden. Auch Achtklässler Brian hat sich getraut. Der 13-Jährige ärgert sich darüber, „dass bei uns auf dem Hof die Jungs den Mädchen auf den Hintern klatschen. Und Sprüche über Schwule finde ich manchmal witzig, aber auch gemein“.

Annette Kögel

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