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Berlin: „Sie haben gerade einen Menschen überfahren“

Tod auf den Gleisen: Straßenbahn überrollt 54-jährigen Mann in Friedrichshain. Ein Zeuge in der Tram will die Fahrerin noch gewarnt haben

Der Mann auf der letzten Bank im ersten Waggon war der einzige Zeuge des schrecklichen Geschehens auf den Gleisen. Sonst hatte offenbar niemand etwas mitbekommen. Er schilderte das, was sich im Straßenbahnwaggon der Linie 23 abspielte, so: „Nicht losfahren!“, hatte er noch gerufen. Doch die Straßenbahnfahrerin dachte wohl, er wolle schnell noch aussteigen. „Dazu ist es jetzt zu spät“, antwortete sie und fuhr los. Der Mann lief daraufhin nach vorn zur Fahrerkabine. „Sie haben gerade einen Menschen überfahren“, sagte er zur Fahrerin.

Der Zeuge hatte am Donnerstagabend um 20.15 Uhr gesehen, wie ein Mann an der Haltestelle Kopernikusstraße in Friedrichshain zwischen zwei Waggons gestürzt war. Doch die Straßenbahn hielt erst an der nächsten Haltestelle, hieß es gestern bei der Polizei. Dort stieg die Fahrerin demnach aus und schaute sich ihr Fahrzeug an. Da sie nichts Auffälliges an ihrem Fahrzeug fand, informierte sie die Leitstelle und fuhr weiter. Nun ermittelt die Polizei wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort gegen die 43-Jährige

Spät in der Nacht fand die Polizei dann eine zerstückelte Leiche auf den Gleisen in der Warschauer Straße – dreihundert Meter vom Unfallort. Innerhalb von gut zwei Stunden war das Opfer von mindestens zehn Zügen überrollt worden – ohne dass einer der Fahrer etwas bemerkt hatte.

Die Leitstelle hatte den Fahrer des zuerst folgenden Zuges gebeten, auf eine verletzte Person zu achten. Der 32-jährige BVG-Fahrer in dieser Bahn sah aber an der Haltestelle Kopernikusstraße nichts. Erst als dieser Fahrer der Linie 23 nach zwei Stunden bei der Rückfahrt wieder zur Warschauer Straße kam, sah er an der Ecke Revaler Straße Leichenteile zwischen den Gleisen. Offenbar hatte kein Passant von dem nur etwa zehn Meter entfernten Gehweg aus etwas gesehen.

Da das Opfer keine Papiere bei sich hatte, konnte es erst am Nachmittag an Hand seines Haustürschlüssels identifiziert werden. Ein 54-jähriger Mann aus Prenzlauer Berg. Eine DNA-Analyse soll jetzt einwandfrei seine Identität klären. Die beiden Straßenbahn-Waggons, die ihn zuerst überfuhren, wurden von der Polizei beschlagnahmt.

Wieso der Mann zwischen die Waggons gefallen war, ist unklar. Der einzige Zeuge sagte bei der Polizei aus, der Mann sei „schwankend vom Gehweg zu der an der Haltestelle stehenden Bahn“ gelaufen. Eine Blutprobe soll jetzt klären, ob der Mann Alkohol getrunken hatte. Im persönlichen Umfeld des Mann hörten die Ermittler aber auch, dass der Mann Selbstmordgedanken geäußert haben soll. Um zu seiner Wohnung in der Kniprodestraße zu gelangen, hätte der Mann einen Zug der Linie 20 in die andere Richtung nehmen müssen. Für die Polizei sind viele Fragen offen: Wie ernst nahm die Fahrerin die Aussage des Zeugen? Wieso hielt sie nicht sofort an? Wieso sah sie nicht auf den Gleisen nach? Wie gründlich sah sie den Zug an? Nach Informationen des Tagesspiegels hatte das Werkstattpersonal vom Betriebshof Lichtenberg vor der Beschlagnahmung Blut und Gewebeteile unter dem Zug gefunden. Vernommen wurde die Fahrerin von der Polizei noch nicht. An den Aussagen des Zeugen zweifele man nicht, hieß es beim Unfalldienst der Polizei.

Wie BVG-Sprecher Wolfgang Göbel sagte, bestreite die Frau die Darstellung der Polizei vehement. Sie sei erst an der nächsten Haltestelle informiert worden. Der Zeuge habe so lange benötigt, den 30 Meter langen Wagen zu durchqueren. Die Polizei will den zeitlichen Ablauf „notfalls von einem Gutachter klären lassen“.

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