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Berlin: Siegfried Otto Eifrig (Geb. 1910)

Die Fackel durfte er mit nach Hause nehmen.

Das Schönste am Joggen, sagte Sieke Eifrig immer, ist das Duschen danach. So betrachtet, machte es keinen großen Unterschied, ob er am Schlachtensee lief (bei geeigneter Wetterlage) oder im Wohnzimmer (bei Eisglätte, Sturm oder Wolkenbruch). Hauptsache, das Joggen fiel nicht aus.

Sieke war Läufer. Schon immer. Seine Paradestrecke, die 400 Meter, legte er in wenig mehr als 50 Sekunden zurück. 400 Meter bedeutet: Einfach lossprinten, so schnell wie möglich, und wenn die Beine nach 200 Meter nicht mehr wollen, auf den Zähnen weiterlaufen. Noch mit 90 Jahren ging er jede Woche zweimal zum Training an den Schlachtensee.

Wenn er seine Beine vorauswarf, sah das anmutig, kraftvoll und federleicht aus. Im Laufen schien sich Sieke gegen alle Widrigkeiten des Lebens zu immunisieren. Er lief durch eine Jugend in der Weimarer Republik, durch Nazi-Diktatur, Krieg und Gefangenenlager, durch den Hunger der Blockade, durch drei Ehen und zuletzt durch die Folgen eines Schlaganfalls. Noch am Rollator, sagte er einmal, juckte es in seinen Beinen.

Sieke gewinnt Anfang der dreißiger Jahre den Lauf Berlin-Potsdam. Viele Leute stehen an der Strecke, jubeln den Sportlern zu. 40 Mal wird er den Staffellauf mitmachen, 20 Mal als Schlussläufer. Sieke tritt im ausverkauften Berliner Sportpalast an. In der Deutschlandhalle wird er vor 12 000 Zuschauern Zweiter im 400-Meter-Lauf. Zusammen mit den Herren „Rolle“, „Gesser“ und „Appen“ beendet er die 4 x 400-Meter-Staffel als Berliner Meister. Das war 1935. Ein Jahr später vollzieht er seine „schlechteste sportliche Leistung“ und zugleich seinen „größten sportlichen Triumph“. So umschreibt Sieke, der Sportler, seinen kurzen Auftritt in der Weltgeschichte. Der Auftritt dauert zehn Minuten und erstreckt sich über eine Distanz von anderthalb Kilometer. Bei Youtube, dem Internet-Videoportal, ist Siekes Fackellauf von der Straße Unter den Linden bis zum Lustgarten unter dem Titel „1936 Berlin Olympic Pre-Opening Nazi Rally“ gespeichert.

Sieke ist auserwählt worden vom Sportklub Charlottenburg, dem SCC. Er läuft für seinen Verein, aber auch für Hitler- Deutschland. Um ihn herum jubelnde Menschen. Am Lustgarten ist die Hitler- Jugend zu Tausenden aufmarschiert. Sie reckt die Arme und ruft Heil. Überall Uniformen, Stiefelknallen, Augen geradeaus. Nur Sieke, der schmale, drahtige Läufer, Haare streng nach hinten gebürstet, ganz in Weiß gekleidet, bewegt sich eigenständig außerhalb der gleichgerichteten Masse. Er ist 26 Jahre alt, schaut ernst und feierlich. Als er die Fackel mit dem „heiligen Feuer“ in die Schale senkt, entzündet sich das Gas erst beim zweiten Versuch. Er hat riesige Angst zu stolpern, erzählt er später seinem Sohn. Die Fackel aus Nirosta-V2A-Stahl der Firma Krupp darf Sieke mit nach Hause nehmen. Als der Krieg beginnt, versteckt er sie unter den Dielenbrettern einer Kegelbahn.

Auf den Fotos, die Sieke, nun Soldat, aufgehoben hat, ist von den Schrecken der Front nichts zu sehen. Er gehört zu einer Nachschubeinheit, Artillerie zu Pferd, die fast ein Jahr auf ihren Einsatz wartet. Weit hinter den kämpfenden Truppen geht es 1940 nach Frankreich. Stationiert wird er in einem Schloss bei Paris. Die Soldaten vertreiben sich die Zeit mit gutem Essen und viel Sport. Zwischendurch reist Sieke als Kurier nach Biarritz und Bordeaux. Er sammelt Postkarten und fotografiert zufriedene deutsche Soldaten auf Lehnstühlen am Strand.

Sieke ist auch Vater. Er darf regelmäßig auf Heimaturlaub zu Frau und Kindern. Die Termine weiß er so zu arrangieren, dass die SCC-Staffelmannschaft nicht ohne ihn zum Lauf Potsdam-Berlin antreten muss. Wie jedes Jahr macht er das „Reichssportabzeichen“. Einige Fotoseiten später sieht man Sieke sogar beim Langlauf. Nun ist er schon in der Etappe der Ostfront. Er fotografiert Kameraden, die sich nach einem Saunagang im Schnee wälzen.

Im Winter 1942 kommt ein Telegramm. Seine Frau ist schwer krank. Tuberkulose. Sieke fährt nach Berlin und kann doch nichts mehr tun. Er ist jetzt alleinerziehender Witwer. Eine traurige Zeit, aber wahrscheinlich rettet sie ihm das Leben. Erst 1943 scheuchen sie Sieke wieder hinaus in den Krieg, diesmal nach Italien. Ohne einen Menschen getötet zu haben, endet seine Soldatenzeit. Er gerät in britische Gefangenschaft und wird in ein Lager nach Ägypten gebracht. Bei den „Leichtathletik-Meisterschaften des „Suezkanal-Süddistrikts“ vor 5000 Zuschauern heimst Sieke etliche Erfolge ein. 1. Preis 100-Meter-Lauf, 2. Preis 300-Meter-Lauf, 3. Preise in den Disziplinen Weitsprung, Kugelstoßen und Diskuswerfen. Außerdem dirigiert er das Orchester der „Bayerischen Bauernbühne.“

1948 kehrt er zurück nach Berlin. Den Koffer mit der Olympia-Fackel von 1936 holt er aus seinem Versteck, aber jetzt sind es die Nazi-Spiele, und wer irgendwie darin verwickelt war, behält es besser für sich. Das geht so bis zum 100. Geburtstag der Olympischen Spiele der Neuzeit. Sieke ist längst pensionierter Sparkassendirektor und einer der Honoratioren des SCC. Jetzt soll er im Fernsehen von seinem Fackellauf erzählen, vom ersten Fackellauf der olympischen Spiele überhaupt, warum er denn mitgelaufen ist, ob er sich später dafür geschämt hat und was denn der Goebbels geredet hat im Lustgarten, während Sieke, der Läufer, die Fackel trug. „Da habe ich gar nicht hingehört.“ Er dachte ja die ganze Zeit: Bloß nicht stolpern!

Dann, 2004, soll er noch einmal die olympische Fackel einige hundert Meter durch Berlin tragen. Er trainiert, bis ein leichter Schlaganfall den Plan zunichte macht.

Laufen mit einem Rollator? Sieke ziert sich nicht lange, sagt „Altwerden ist nichts für Weicheier“, geht einkaufen, macht seine tägliche Gymnastik, guckt Leichathletik im Fernsehen. Durchhalten bis ins Ziel. Thomas Loy

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