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Berlin: Siegfried Ziche (Geb. 1947)

Ein 17-Jähriger als Kneipenwirt? Das geht nicht an!

Vier ist Siegfried gewesen damals, jemand schenkte ihm einen Bonbon. Und er fing an zu weinen. Hielt den Bonbon in der Hand und wollte ihn nicht essen, auf keinen Fall. Ratlos schauten die Erwachsenen auf das schluchzende, stammelnde Kind. Bis sie den Sinn seiner Worte verstanden: Er wollte auf seine Schwester warten, er wollte den Bonbon mit ihr teilen.

14 Jahre später steht Siegfried mit anderen „Beatjüngern“, wie Zeitungen sie nennen, in der Waldbühne, zertrampelt den Rasen, reißt die Holzzäune und eisernen Geländer nieder, zertrümmert das Mobiliar. Die „Rolling Stones“ haben die Bühne vor Stunden verlassen.

Bibelkonform verlief Siegfrieds Kinderleben, in drei Zimmern, zusammen mit seinen sieben Geschwistern, der Mutter und dem Vater, der als Küster arbeitete. 1964 sprach das Jugendamt bei den Eltern vor: Es gehe nicht an, dass ein 17-Jähriger Wirt einer Kneipe sei. Der „Treffpunkt“ im Tegeler Weg war alles andere als ihre Welt; doch dem Sohn Steine in den Weg legen, nein, das lehnten sie ab und bürgten für ihn.

Im „Treffpunkt“ konnte man trinken und tanzen, nach den erstaunlichen Liedern einer Liverpooler Band, deren neueste Platten Siegfried über einen Bekannten direkt aus dem „Starclub“ in Hamburg bezog. Die ganz frühen Beatles, noch rau und in Lederjacken, berauschten ihn, der die Schule abgebrochen hatte, darauf zwar eine Bäckerlehre mit „gut“ abschloss, dann jedoch im „Sportpalast“ zu kellnern begann, später Pilotenbrille, massive Goldketten, eine diamantbesetzte Uhr, Schnauzbart und die Ärmel seines Jacketts hochgekrempelt trug. Der nie aus der Kirche austrat. Der nach dem „Treffpunkt“ die „Almhütte“ und das „Trend“, eine Fußballkneipe eröffnete. Der nach dem Fall der Mauer mit dem „Monte Carlo“, einem Nachtclub mit Pornokinos, viel Geld verdiente. Geld, das er in seinen Traum, ein großes Haus mit Swimmingpool steckte. Dort feierte er Partys, die kein Gast je vergessen sollte, mit schönen, stark geschminkten Frauen in knappen Röcken, deren rotleuchtende Fingernägel Lichtreflexe in den Cocktailgläsern erzeugten. Und am nächsten Morgen, wenn die knappen Röcke zerknittert waren und unter den Augen der schönen Frauen dunkle Ringe lagen, sprangen alle in den Pool und riefen sich zu: „Heute Abend feiern wir weiter!“

Sie feierten weiter, bis Siegfried zusammenbrach. Herzinfarkt. Steuerschulden. Zwangsversteigerung des Hauses. Entzug der Konzession.

Seine Frau verließ ihn, was er ihr nicht verzieh, beisammenbleiben soll man nicht nur in den guten Zeiten. Aufrichtigkeit, so befand er, ist die Hauptsache einer Freundschaft. In diesem Punkt blieb er unnachgiebig, trug den Menschen Unehrlichkeit und Ungerechtigkeit ein Leben lang nach. Noch in diesem Jahr warf er seiner Mutter zum hundertsten Mal diese alte Geschichte vor: Da war er elf, hatte ein Stück Wurst aus der Speisekammer gestohlen, und sie sperrte ihn für die Lappalie in den Keller.

Siegfried zog sich zurück in seine kleine Wohnung am Stuttgarter Platz, nahm seinen Sohn Sven zu sich, hörte auf zu rauchen, trank nur noch Wasser, aß Salat, betrieb ein paar Spielautomaten, die in den Läden der Umgebung hingen.

Er brach noch mal zusammen, wollte aber auf keinen Fall ins Krankenhaus. Die Feuerwehr rückte an, der gesamte Stuttgarter Platz wurde abgesperrt, ein Notfallhubschrauber landete. „Ich geh’ nirgendwohin“, beharrte Siegfried weiter, „ich muss mich doch um Sven kümmern.“

Im September fuhr er, obwohl überaus schwach, mit Geschenken für alle zu einer Familienfeier nach Niedersachsen. Er erzählte Anekdoten, lachte, brachte die anderen zum Lachen. Dann ging er hinauf in sein Zimmer und schloss die Tür ab. Tatjana Wulfert

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