zum Hauptinhalt

Berlin: Soll Berlin die Kehrwoche einführen?

Wir reden gern von bürgerschaftlichem Engagement, fordern mehr Eigeninitiative, weil dem Staat das Geld fehlt, für alles zu sorgen. In den Schulen wollen wir Werteunterricht zur Pflicht machen, damit Kinder und Jugendliche sich auf die Verhaltensregeln besinnen, die uns gesellschaftsfähig machen.

Wir reden gern von bürgerschaftlichem Engagement, fordern mehr Eigeninitiative, weil dem Staat das Geld fehlt, für alles zu sorgen. In den Schulen wollen wir Werteunterricht zur Pflicht machen, damit Kinder und Jugendliche sich auf die Verhaltensregeln besinnen, die uns gesellschaftsfähig machen. Aber sobald wir selbst gefragt sind, fürs Gemeinwohl aktiv zu werden, winken die meisten ab. Die Mehrheit der Berliner ist einig im Ärger über Hundekot und Zigarettenkippen auf den Gehsteigen. Aber kaum jemand greift freiwillig zum Besen, um vor der eigenen Haustür zu kehren. Schon der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. rümpfte darüber die Nase. Vor 270 Jahren verschärfte er die Gassenordnung und verpflichtete Berliner Hausbesitzer, jeden zweiten Tag vor ihren Türen bis zur Straßenmitte zu kehren und für die Beseitigung des Unrats zu sorgen. Das Modell der schwäbischen Kehrwoche wäre in Berlin also nichts Neues, sondern folgt einer Tradition. Ein wenig mehr preußischer Pflichtgeist kann der Stadt nur nutzen – und ist praktischer Werteunterricht für Jedermann. Wer regelmäßig vor der eigenen Tür fegen muss, wirft seine nächste Kippe nicht achtlos vor fremde Häuser. Die Kehrwoche fördert Verantwortung und Nachbarschaftssinn und gehört auch in Berlin als Pflichtprogramm in jede Hausordnung.

Wir beneiden sie insgeheim, die Schwaben. Sie sind grundsolide, sparsam und vor allem so reinlich, dass ihre Häuser und Städte blitzen. Das sieht gut aus. Wer von auswärts anreist, etwa aus Berlin, ist oft peinlich berührt, geht fast auf Zehenspitzen über die Trottoirs. Wir bedauern sie insgeheim im Ländle, weil wir denken, dass da ein Volk erbarmungslos auf Sauberkeit gedrillt ist. Sie kehren, was die Besen hergeben. Das Reinigungsritual grenzt an Nötigung. Eine Kehrwoche ist in Berlin verkehrt. Wir sind anders, haben das pathologische Putzen nicht im Blut – und nicht in den Mietverträgen. Wir sind, das ist in puncto Sauberkeit zwar kein Segen, leidensfähiger, toleranter. In Preußen fanden einst Verfolgte eine Zuflucht. Nach West-Berlin flohen Zehntausende von Schwaben. Warum? Weil sie den Sauberkeitsfimmel und die Kontrollblicke der Nachbarn satt hatten. Die Rüpeleien von Sauberleuten, die sich wegen eines Haars auf der Kellertreppe in die Haare kriegten, die Krümel-Konflikte. Ferien wurden nach Kehrplan, nicht nach Fahrplan ausgerichtet. Die Flüchtlinge sahen im schmutzigen Berlin die Rettung, putzten verstohlen, bis sie resignierten. Mehr „Kehrenbürger“, wie sie die BSR in einer Kampagne sucht, kann Berlin brauchen. Freiwillig, nicht nach Vorschrift und Gesetz. Christian van Lessen

Zur Startseite