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Berlin: Sommerhaus rüber: Eine Hütte wechselt den Bezirk

Gebietstausch mit Mitte: Der Garten von Familie Kalin gehört künftig zu Kreuzberg

Windschief steht die Hütte da, aber auf solidem Zementfundament. Eine Bauerlaubnis hätte es für sowas niemals gegeben, und Osman Kalin hat auch keine. Dass er gestern Besuch von Kreuzbergs Bezirksbürgermeisterin Cornelia Reinauer (PDS) bekam, geschah aber nicht, um ihn zu ermahnen, seinen rechtlosen Zustand aufzugeben. Vielmehr wollte Frau Reinauer einen neuen Bürger in ihrem Bezirk willkommen heißen. Denn Osman Kalin, bisher Besiedler und Bepflanzer von Mitte, wird Kreuzberger. Dafür muss Kalin sich kein bisschen bewegen. Stattdessen bewegt sich die Bezirksgrenze. An just der Stelle, an der der 79Jährige seit 20 Jahren auf öffentlichem Straßenland Zwiebeln pflanzt, begradigen die beiden Bezirke ihren Grenzverlauf. So rutscht Kalin nach Kreuzberg.

Sein innerstädtisches Gemüseparadies verdankt Kalin eben diesem früheren Grenzverlauf. 1982 nämlich, da lief die Mauer an dieser Verkehrsinsel am Bethaniendamm entlang. Eigentlich hätte sie einen Zacken bilden müssen wie heute die Bezirksgrenze, aber die DDR wollte Rohstoffe sparen und ließ den Zacken aus. Die DDR baute praktisch aus Spargründen einen ähnlichen Mauerverlauf, wie ihn die Bezirke jetzt als neuen Grenzverlauf beschlossen haben.

Damals aber, als die Mauer noch stand, ragte dieser Keil DDR-Gebiet unbemauert in den Westen. Der dreieckige Grund wurde Treffpunkt von Obdachlosen, Schauplatz von Trinkgelagen und Schutthalde. Osman Kalin räumte auf, brachte den Schutt weg, schüttete Humus und Erde auf und pflanzte Tomaten. Auch Zwiebeln. Und Kohl. Heute wachsen auch Kirschen und Aprikosen, Spinat, Knoblauch und Kürbisse dort.

Eines Tages öffnete sich eine Tür in der Mauer, bewaffnete Militärs traten an Osman Kalin heran und fragten, was er hier mache. Die Androhung, ihn zu erschießen, machte auf Kalin keinen erkennbaren Eindruck. Das verlangte Ausweispapier, seinen türkischen Pass, warf er den Männern vor die Füße. So wie es Kalin heute schildert, hatten die Soldaten danach nur drei Fragen an ihn: Wie lange er schon hier sei, was er mache und wieso er ihnen den Ausweis vor die Füße geworfen habe. „Ausweis ist Papier, aber wir sind Mensch, du Mensch, ich Mensch“, habe er den Grenzern gesagt. Seit 1963 sei er in Deutschland, zwanzig Jahre habe er hier Straßen gebaut. Daraufhin ging die Tür in der Mauer wieder zu, und es herrschte jahrelang Ruhe, bis die Mauer einstürzte.

Aus Brandschutzgründen musste Kalin der Hütte irgendwann ein Zementfundament verpassen, und man brachte ihm auch nahe, dass das Wasser nicht von Allah kommt, sondern von den Wasserbetrieben und demnach bezahlt werden muss. Die Hütte versah Kalin irgendwann mit einer Art erstem Stock; die Wände innen sind mit den Paneelen verkleidet, die andere Leute als Laminat auf ihren Fußboden legen. Winzig und verwinkelt ist das Häuschen, aber es passen genug Hocker für eine türkische Familie hinein. Sechs Kinder hat Osman Kalin mit seiner Frau Fadik (66). Gelegentlich verkauft er überzählige Zwiebeln auf dem Markt am Maybachufer. „Das meiste essen wir aber selbst“, sagt sein Sohn Mehmet (40). „Wir sind eine große Familie.“

Berlin verändert sich, vieles passiert, und hier? „Das ist ein Kleinod, damit passiert gar nichts“, sagt die Bezirksbürgermeisterin. „Das ist ja schon ein touristischer Anziehungspunkt.“ Echte Kreuzberger aber waren die Kalins in Wahrheit schon immer. Das „Sommerhaus“ der Familie nennt Osman Kalin die Hütte. Ihre Wohnung liegt auf der anderen Straßenseite, am Bethaniendamm.

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