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SONNTAGS um zehn: Als die Nazis „Folge mir!“ riefen

Am Opfergedenktag sprach Bischof Dröge über Gefolgschaft, Toleranz und die Schuld der Kirche.

Dass die Menschen damals sich überhaupt am Anblick von Marschierenden mit Fahnen erfreuen konnten, die allein durch ihr Auftreten ganze Straßen in Besitz nahmen. Dass sie das aushielten. Man kann sich darüber heute nur wundern. Und noch mehr darüber, dass es ihnen gefiel, eine Kirche so zu sehen, ein Gotteshaus, eines, das mehr als jedes andere für alle offenstehen sollte. Doch nun war es mit meterlangen Hakenkreuzfahnen geschmückt, in Besitz genommen durch eine politische Bewegung.

Anfang Februar 1933 war das, und vor dieser Kulisse in einer vollkommen überfüllten Marienkirche dankte Pfarrer Joachim Hossenfelder für die Machtübernahme durch Adolf Hitler. Und für Hitler selbst, den die Bewegung der Deutschen Christen für ein Werkzeug Gottes hielt.

Ja, die Kirche selbst habe sich in die damalige politische Lage verstrickt, sie habe „den Ruf Jesu, den Ruf der Liebe, an zu vielen Orten, bei zu vielen Gelegenheiten in sein Gegenteil verkehrt“. So sagt es gut 80 Jahre später am selben Ort Bischof Markus Dröge in seiner Predigt. Diesmal hängen keine Fahnen, diesmal sind die Bänke nur zur Hälfte gefüllt. Es sind vor allem alte Menschen gekommen und ein paar Familien. Dröge erinnert daran, dass die Kirche sich auch nach dem Ende des Krieges und des Nationalsozialismus nur zögerlich mit ihrem Versagen auseinandergesetzt habe, verfolgt diesen Gedanken aber nicht weiter.

Die Predigt des Bischofs will drei Termine verbinden. Sie stimmt auf die Themenjahre „Zerstörte Vielfalt“ des Landes Berlin zur NS-Geschichte und „Reformation und Toleranz“ der Landeskirche ein und würdigt den 27. Januar als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Dröge ist dabei weniger staatstragend als vor ihm die für Liturgie zuständige Pfarrerin, in deren Reden „der Zweite Weltkrieg“ und „der Nationalsozialismus“ Vielfalt zerstörten, als seien es nicht Menschen aus Fleisch und Blut, mit Freunden und Eltern, mit Zahnweh oder Liebeskummer gewesen, die das taten. Was doch das Unfassbare erst ausmacht.

„Folge mir!“, sagte Jesus zu Matthäus, dem Zöllner, der alles stehen und liegen ließ, aufstand und folgte. In diesem bedingungslosen Folgen liege, sagte Dröge, einerseits etwas Geheimnisvolles, aber auch etwas Gefährliches. Denn weiß man, wem man folgt? Und wie kann das eigene bedingungslose Folgen zusammengehen mit anderen Wertesystemen?

Das gehe mit Toleranz. Toleranz, wie das Kirchenthemenjahr sie sieht. Toleranz als Ergebnis von Anstrengung. Das macht Dröge deutlich. Toleranz sei nicht Gleichgültigkeit. Sie sei offene Auseinandersetzung. Dialogbereitschaft, so wie Jesus dialogbereit war, als er sich den Fragen der Pharisäer stellte, die wissen wollten, warum ausgerechnet Zöllner und Sündige mit an den Tisch gebeten worden seien.

Es klingt an manchen Stellen nach Paarberatung, was der Bischof sagt: Dialogbereitschaft, den anderen akzeptieren, ihm Raum lassen. Aber gibt man sich nicht vor allem in Paarbeziehungen Mühe mit dem anderen Menschen? Und könnte man diese Mühe nicht viel mehr Menschen zuteil werden lassen?

Zum Gottesdienst in der Marienkirche waren Gäste von der Aktion Sühnezeichen geladen. Einer der jungen Aktivisten erzählte von Roma und Sinti, mit denen er eine Zeit lang in Tschechien gelebt habe. Roma und Sinti seien, obschon Verfolgte des Naziregimes, bis heute eine diskriminierte Bevölkerungsgruppe geblieben. Mit Vorurteilen belegt, abgestempelt. Was ein großes Unrecht sei. Und das gebe es auch in Deutschland.

„Die häufigste Form der Diskriminierung ist heute die Vermeidung von Kontakt“, sagte auch Bischof Dröge. Dabei sei doch die Botschaft des Evangeliums: „Geht aber hin und lernt.“ Es sei ein mühsamer Weg zur Toleranz. „Mit Rückschritten. Anstrengend, das eigene Leben wird infrage gestellt.“ Aber alternativlos. Der Tolerante müsse allein zur Intoleranz sofort „so nicht“ sagen.

Die Nationalsozialisten haben, assistiert und eifrig unterstützt von den Deutschen Christen, eine andere Marschrichtung vorgegeben. Wider alle Toleranz. Es war ein Wider bis aufs Blut. Aber ihr gellender Schrei, ihr „Folge mir!“ war lauter als alles, was es sonst zu hören gab. Und die Menschen standen auf und folgten. Wegen des großen Besucherandrangs wurde am Abend des 3. Februar 1933 noch ein zweiter Gottesdienst gefeiert.

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