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Berlin: Sonntags um zehn: Die Kehrseite der Geborgenheit

Es ist Sonntag, es sind Ferien, und die Stadt ist leer, die ganze Große Hamburger Straße in Mitte ohne Menschen. Der Kirchhof auch.

Es ist Sonntag, es sind Ferien, und die Stadt ist leer, die ganze Große Hamburger Straße in Mitte ohne Menschen. Der Kirchhof auch. Wenn es nicht so kalt wäre, könnte man stehen bleiben und darüber nachdenken, welches der beiden Torhäuser der Sophienkirche das bessere ist. Das sanierte mit der neuen Fassade oder das andere, wo noch die Löcher zu sehen sind, die die Weltkriegs-Granaten hineingeschlagen haben.

Heute, am Silvesterabend um acht zum Orgelkonzert, wird es hier wie immer voll sein von Menschen. "Achthundert werden kommen", sagt der Pfarrer Hartmut Scheel, da sei er sicher, weil es immer so viele sind. Zum Sonntags-Gottesdienst sitzen zwei Dutzend Menschen, Alte, Junge, Paare, verstreut auf den Bänken, unter jeder bullert eine Heizung. Sie feiern noch einmal Weihnachten, singen die Lieder der Bethlehem-Geschichte. "Gottes Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit", den Satz aus dem Johannes-Evangelium sagt Scheel am Anfang der Feier. Er ist das Motto der Weihnachtswoche.

In der Kirchenmitte, unter dem großen Weihnachtsstern an der Decke, sitzt eine Frau, die einzige, die besonders schön und laut singt, ihre Stimme trägt die anderen. Der Chor fehlt, einige seiner Sänger sind gerade mit der Dom-Kantorei in Jerusalem.

Und dann gibt es doch noch eine kurze Predigt. Wie ist das, wenn ein Kind keine Krippe hat, sagt der Pfarrer. Und, andererseits, wie ist das mit der Furcht der Geborgenen, mit der Kehrseite des Geborgenseins, mit der Angst vor der Verlassenheit? Welchen Trost haben die Kinder, die in den großen deutschen Städten an Klappen abgelegt werden und ihre Mütter nie kennen lernen? "Gott ist verlässlicher als eine irdische Mutter", sagt der Pfarrer. Und sind wir zynisch, wenn wir hier ein Fest feiern, sagt er, wo andere zur gleichen Zeit nicht mehr weiterwissen? Die Gemeinde betet für die, die verzweifelt sind heute in Afghanistan, auch in Kaschmir und Argentinien.

Pfarrer Scheel sagt, er habe zwar vor allem Lieder ausgesucht, die in der Weihnachtswoche noch nicht gesungen wurden. Nach dem Vaterunser stimmt die Orgel dennoch "O, du fröhliche" an. Die Glocken läuten. Die Kinder, die in der Sakristei nebenan ihren eigenen Gottesdienst feierten, sind wieder da, auch die Kleinste kommt, das Mädchen, das vorhin beim Hinausgehen in den Nebenraum die Kerze tragen musste. Sie hat sie nicht mehr dabei.

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