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Berlin: Sonntags um Zehn: Gesundheit ist auch eine Frage der Lebensfreude

Es wäre auch zu schön gewesen. Die Fernseh-Liveübertragung aus der Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg war fast vorüber, die Gemeinde hatte kräftig mitgesungen, und die Stimmung war kurz vor dem Segen bei besinnlich angelangt.

Es wäre auch zu schön gewesen. Die Fernseh-Liveübertragung aus der Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg war fast vorüber, die Gemeinde hatte kräftig mitgesungen, und die Stimmung war kurz vor dem Segen bei besinnlich angelangt. Doch Kreuzberg wäre nicht Kreuzberg, wenn beim ökumenischen Neujahrsgottesdienst unter dem Motto "Hauptsache gesund!" nicht noch irgendwas schief gegangen wäre. Wobei schief ein relativer Begriff ist: Der stämmige Mann, der aufsprang und den am Altar stehenden Bischöfen Wolfgang Huber und Georg Kardinal Sterzinsky Abfall vom christlichen Glauben vorwarf, hatte zweifellos einen spektakulären Auftritt. "Es geht auf den Abgrund zu!", rief er, bevor die ARD sich ausblendete und ihm damit das letzte Wort gönnte. "Lest die Bibel!"

Eigentlich hatten die beiden das zuvor durchaus getan. Zur Seite stand ihnen Dagmar Schipanski, Ex-Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten und gegenwärtig Wissenschaftsministerin von Thüringen. Nacheinander suchten sie in der Schöpfungsgeschichte, den Psalmen und dem Evangelium Antworten auf die Frage: Ist Gesundheit um jeden Preis erstrebenswert, oder gibt es Grenzen des ethisch Vertretbaren? Die Schlagworte waren bekannt: Gentechnik, Biotechnik, therapeutisches Klonen. "Die Vision einer leidensfreien Gesellschaft ängstigt mich", sagte Kardinal Sterzinsky. "Sie atmet den Ungeist des Übermenschen." Dagmar Schipanski ergänzte: "Der Mensch ist nicht das Produkt seiner Gene, und sein Wert hängt nicht davon ab, ob er gesund oder krank ist." Und Bischof Huber resümierte: "Der christliche Glaube ist nicht wissenschaftsfeindlich, aber zu wirklicher Erkenntnis gehört auch die Demut, die Einsicht in die Endlichkeit des Lebens." Die Botschaft der Ansprachen: Die Verlängerung menschlichen Lebens darf nicht auf der Vernichtung anderen menschlichen Lebens, dem von Embryonen, beruhen.

Eine schwere Kost nach einer kurzen Nacht, deshalb sollte eine temperamentvolle Flamenco-Gruppe für Auflockerung sorgen, später musizierten auf der Empore Chor und Blechbläser, und unten spielte ein Trio aus Orgel, Alphorn und Sheng, einem asiatischen Blasinstrument. Die Botschaft der Darbietungen: Gesundheit ist auch eine Frage der Lebensfreude. Alles nett anzuhören. Bis der stämmige Mann seinen Auftritt hatte. Nach dem Gottesdienst stand er vor dem Portal und sagte: "Anders findet man in dieser Kirche kein Gehör." Um mangelnde Aufmerksamkeit brauchte er sich diesmal nicht zu sorgen.

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