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Berlin: Sonntags um zehn: Namentlich aufgerufen

Knapp 20 Gemeindemitglieder von insgesamt 4300 hörten gestern Vormittag in der Evangelischen Erlöserkirche Gottes Wort. In Moabit ist man nun nicht etwa gottloser als anderswo - es ist Ferienzeit, ansonsten kann die Pastorin Annette Reichwald-Siewert sonntags wesentlich mehr ihrer Schäflein in der Kirche am Wikingerufer 9 mit freundlichem Handschlag begrüßen und nach dem Gottesdienst zu einer Tasse Kaffee oder Tee in den Gemeindesaal bitten.

Knapp 20 Gemeindemitglieder von insgesamt 4300 hörten gestern Vormittag in der Evangelischen Erlöserkirche Gottes Wort. In Moabit ist man nun nicht etwa gottloser als anderswo - es ist Ferienzeit, ansonsten kann die Pastorin Annette Reichwald-Siewert sonntags wesentlich mehr ihrer Schäflein in der Kirche am Wikingerufer 9 mit freundlichem Handschlag begrüßen und nach dem Gottesdienst zu einer Tasse Kaffee oder Tee in den Gemeindesaal bitten. Man kennt sich hier, Neue fallen auf und bekommen vorsichtshalber mit dem Gesangbuch eine Gottesdienst-Ordnung in die Hand gedrückt.

Das Orgelvorspiel von Edda Straakholder gibt Zeit, den Alltag abzuschütteln und sich zu sammeln. Unter einer Bank schnarcht ein vierbeiniges Gottesgeschöpf - ein Ehepaar hat seinen Hund mitgebracht. Sonnenblumen leuchten vom schlichten Altar der Kirche, die 1943 nach einem Bombenangriff bis auf die Grundmauern ausbrannte und wiederaufgebaut am 9. März 1958 von Bischof Dibelius neu geweiht wurde.

Furchtbar muss der Brand gewesen sein und die Moabiter Bevölkerung - fast durchweg bis heute einfache Leute - in Angst und Schrecken versetzt haben. Diese Gedanken kommen der fremden Besucherin beim Betrachten der Kirchen- und Gemeindechronik an einer Längsseite des Kirchenschiffs. Ausgelöst wohl durch die vorher gehörte Predigt, die sich um den Spruch der Woche rankt. Er ist von Jesaia und man kann ihn sogar auf einem mit Sonnenblumen bedruckten Blatt mit heimnehmen. "Gott spricht", heißt es bei dem Propheten, "fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!". Die Pastorin überfordert die kleine Gemeinde nicht, erörtert diese Prophetie nicht auf ihren politischen Inhalt, sondern ihr individuelles Verständnis. Wer Gott vertraut, hat nichts zu befürchten, auch nicht, wenn einem das Wasser bis zum Hals steht. Sagt doch Gott: "Wenn du durch tiefe Wasser musst, bin ich bei dir". Wie aber kann man daran glauben, wenn solche Probleme wie Arbeitslosigkeit, Trennung, Depressionen oder eine fehlende Lehrstelle drücken?

Die Pastorin weiß die christliche Antwort: Gott hält nicht die Schwierigkeiten vom Leib, aber er gibt die Kraft, sie zu durchstehen - "er hat mich mit meinem Namen gerufen", sagt sie. Und wer ruft uns schon noch mit unserem Namen, löst sich der Mensch in der digitalen Welt doch immer mehr in Nummern auf, und die sind in all den Ämtern, Behörden und Institutionen auch noch verschieden. Wenn so eine Ziffer da mal gelöscht wird, bin ich da etwa nicht mehr? Die Pastorin tröstet mit Gott: "Ich weiß deinen Namen".

hema

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