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SONNTAGS um zehn: Wo die Sündigen Schlange stehen

Ganz selbstverständlich: Berlins Polen gehen am Sonntag am Südstern zur Messe.

Eine halbe Stunde vor Beginn der Messe stehen die ersten Polen im Eingangsportal der St.-Johannes-Basilika. Da sind die deutschen Katholiken, die den Gottesdienst davor haben, noch bei der Austeilung der Kommunion. Die polnischen Gläubigen betupfen sich mit Weihwasser, bekreuzigen sich und schlüpfen in die hinteren Bankreihen. Zweimal Messe schadet keinem.

Kurze Zeit später drängen sich Autos in der Neuköllner Lilienthalstraße, es gibt längst keine freien Parkplätze mehr, so fahren die Familien direkt vor und lassen Frauen und Kinder raus. Viele Frauen haben sich zur Ehre Gottes in Stöckel gezwängt, die nicht für lange Spaziergänge gemacht sind. Die riesige Kirche, man glaubt es kaum, füllt sich mit 700, 800 Menschen. Viele müssen stehen.

Der Gottesdienst findet in polnischer Sprache statt und mit eigenen polnisch-katholischen Liedern, die eine Oktav dunkler und schwerer klingen als anderswo und wie gemacht sind für das wuchtige Gebäude, bei dem an nichts gespart wurde. Säulen und viel Gold schmücken die Apsis hinter dem Hochaltar; über allem thront im byzantinischen Stil Christus als mächtiger Weltenherrscher. Wer weiß, dass die Kirche 1897 als katholische Garnisonkirche geweiht wurde – unter Anwesenheit des Kaiserpaares – sieht gleichwohl nicht nur den christlichen Machtanspruch dahinter.

Pater Grzegorz Jezewski predigt über das zweite Gebot. Du sollst dir kein Bildnis machen, weder von Gott noch von den Geschöpfen auf der Erde, nicht urteilen nach Äußerem, barmherzig sein. So wie Gott barmherzig ist zu denen, die ihn lieben. Kaum hat er zu Ende gesprochen, eilt Pater Gregor nach hinten, um beim Eingang der Kirche ein paar Beichten abzunehmen. Die Sündigen stehen Schlange an den Beichtstühlen. Hier scheut sich offenbar keiner, ein Geständnis abzugeben, während einen Meter entfernt die anderen Gläubigen dem Fortgang der Messe folgend das Glaubensbekenntnis sprechen.

Vermutlich wissen die meisten eh, was im Leben der anderen gerade los ist. Die Johannes-Basilika ist Treffpunkt und Kulturzentrum, im Eingang hängt eine Ausstellung über den Warschauer Aufstand 1944, im Untergeschoss ist Kunst zu sehen. Auch unter der Woche ist hier einiges los. Nach der Messe verteilt ein Gemeindemitglied am Ausgang ein Faltblatt, auf dem die polnische Infrastruktur in der Stadt aufgezeichnet ist: Geschäfte, Arbeitsvermittlung, Hebamme, Sterbegeldversicherung. Einzig die Kirche fehlt. Aber wo die ist, das wissen sowieso alle. Claudia Keller

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