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Mit gutem Beispiel voran. Kazim Erdogan, Meister des Engagements.

© Georg Moritz

Soziales Engagement: Tausendundeine Tat

Einst sollte Kazim Erdogan in die Türkei abgeschoben werden – damit hätte sich Berlin einen Bärendienst erwiesen. Denn heute macht der 59-Jährige vor, wie man sich aktiv für die Gesellschaft einsetzt. Dafür bekam er den Bundesverdienstorden.

Kazim Erdogan hat in seinem Leben gleich mehrmals Glück gehabt: So beispielsweise am 25. September 1974. Damals saß er in Abschiebehaft in West-Berlin. Sein Pass und sein Touristenvisum waren abgelaufen und er sollte zurück in die Türkei geschickt werden. „Ich saß schon mit einem Bein im Flieger", erinnert er sich. „Am Dienstag wollten sie mich abschieben und am Montag bekam ich von der Freien Universität die Zusage für einen Deutschkurs". Daraufhin entschied ein Beamter der Ausländerbehörde, dass Erdogan bleiben könne. Wenn der Mann wüsste, welchen guten Dienst er damit Kazim Erdogan – aber auch der Stadt Berlin gemacht hat. Heute ist der 59-jährige Familienvater aus Neukölln beim sozialen Engagement einer der Rekordhalter in Berlin. Jüngst hat er den Bundesverdienstorden bekommen, und er ist auch schon wieder mit Neuem beschäftigt, obgleich das neue Jahr gerade erst angefangen hat.

Vätergruppe, Rechtsberatung, Woche des Lesens...

„Es kommen immer mehr Projekte dazu, weil jedes einzelne so erfolgreich läuft“, sagt der Vater von zwei Töchtern, der 1953 in der Zentraltürkei geboren und seit zwanzig Jahren deutscher Staatsbürger ist. Wie viele Gruppen er mittlerweile in Neukölln leite? Die kann Kazim Erdogan schon lange nicht mehr an zwei Händen abzählen: Da gebe es die Vätergruppe, die Müttergruppe, die Elternversammlungen in Kitas und Schulen, die soziale Rechtsberatung, die Woche des Lesens, die Sprachwoche und so weiter und so weiter. Man hört im gerne zu, er spricht mit sehr gewählter Ausdrucksweise. Aber Kazim Erdogan scherzt auch gerne und lacht viel. Der Mann ist körperlich nicht hoch gewachsen, aber er bewegt Großes. Heute trägt er ausnahmsweise einen Anzug. „Ich habe heute Morgen einen Vortrag in Wiesbaden über meine Arbeit mit türkischstämmigen Männern gehalten.“ In seinem Büro serviert er schwarzen Tee und Kekse.

Für den Psychosozialen Dienst berät der Psychologe und Sozialarbeiter im Auftrag des Bezirksamts Neukölln Eltern und ihre Kinder in Erziehungs- und Familienangelegenheiten. „20 Stunden am Tag bin ich unterwegs", sagt der 59-Jährige. Acht Stunden davon sei er seinem Arbeitgeber verpflichtet und jeden Tag nach der Arbeit widme er sich einer anderen Gruppe. „Das ist alles nur möglich, weil mein Arbeitgeber meine Projekte schätzt und mich unterstützt“, sagt er.

Nachdem Erdogan an der Freien Universität in Dahlem Psychologie und Soziologie studierte, arbeitete er in den 80er Jahren zehn Jahre lang als Hauptschullehrer in Tiergarten, dann als Schulpsychologe in Schöneberg. 2003 trat er seine Stelle im Bezirksamt Neukölln an.

Seine Arbeit mit türkischstämmigen Männern für den von ihm gegründeten Verein „Aufbruch Neukölln“ hat sich auch über die Grenzen Neuköllns unter Migrationsexperten in Deutschland herumgesprochen. In regelmäßigen Gesprächsrunden spricht er mit den Vätern über Ehre und Frauenrechte. Mittlerweile wird Erdogan deshalb für Vorträge in ganz Deutschland angefragt und auch gern von Journalisten nach einer Einschätzung zu den Bewohnern im Problembezirk Neukölln befragt. Er selber sei jedoch „ein Rudower Spießbürger“.

Mit dem Bundespräsidenten "nett unterhalten"

Am wichtigsten bei seinen Ehrenämtern sei es ihm, „den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und auf niemanden herabzuschauen“. Für sein Engagement wurde er schon mehrfach ausgezeichnet, am 3. Dezember 2012 kam der Bundesverdienstorden dazu. Warum er diesen nicht schon viel früher bekommen hat, habe ihn der Bundespräsident gefragt. „Ich wollte, dass Sie ihn mir persönlich überreichen", habe er Joachim Gauck geantwortet. Zwei Tage nach der Verleihung lud ihn der Bundespräsident mit seiner Frau zum gemeinsamen Teetrinken ins Schloss Bellevue ein. „Wir haben uns sehr nett unterhalten“, erzählt Kazim Erdogan.

An den Politikern im Allgemeinen ärgert ihn, dass sie alles immer nur „in der Theorie" und „auf dem Papier" regeln würden. „Zu welchen Ergebnissen hat bitte die Islamkonferenz geführt?“, frage er sich. Man müsse die Dinge auch einfach mal anpacken, rät er. Zwar finde Erdogan es wichtig, dass viel über die schulische Bildung gesprochen werde, kulturelle Bildung sei jedoch ebenfalls wichtig. „Aus meiner Vätergruppe können sich die wenigsten einen Theaterbesuch leisten.“ Manchmal liegt er nachts wach im Bett und überlegt, wo er sonst noch helfen könnte. „Wo gibt es noch Bedarf, wer braucht Hilfe, was wäre ein interessantes nächstes Projekt?". Das sind die Gedanken, die ihn stetig beschäftigen. „Es hat keinen Sinn, dass man sich beschwert und nörgelt, aber nicht handelt“, sagt er. Wenn man etwas bewegen will, müsse man selbst als Vorbild agieren.

Jede Menge guter Vorsätze - für neue Projekte

Seine Arbeit als Psychologe macht es ihm nicht ganz leicht, keine Probleme fremder Menschen mit nach Hause zu nehmen. „Einmal erzählte mir eine Frau an Weihnachten, dass sie kein Brot für ihre Familie kaufen könne, weil ihr Mann spielsüchtig sei“. Geschichten wie diese lassen ihn nicht los. Seine Töchter treten dennoch in seine Fußstapfen. „Die jüngere macht gerade ein Freiwilliges Soziales Jahr in den USA“, erzählt er.

Erdogan hat seine eigenen guten Vorsätze für 2013: Er will jetzt ehemalige Intensivtäter und Männer, die früher spielsüchtig waren, ausbilden und sie in Schulen von ihren Erfahrungen berichten lassen. Dann wäre da noch das Projekt „Trinkbrunnen“ für besseres Wasser in Berliner Schulen, dafür sucht er eine Finanzierung. Und noch in diesem Monat wird er mit seiner Gruppe „Eltern in die Schulen“ Schüler-Workshops über den Umgang mit Medien geben.

„Ich kann ihnen auch eine Liste mit weiteren geplanten Projekten zuschicken“, sagt Kazim Erdogan.

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