zum Hauptinhalt
Hab’ meinen Wagen vollgeladen. Mehrlingsgeburten sind medizinisch nicht ohne Risiko, insbesondere bei älteren Müttern.

© Uli Deck/dpa

Späte Mütter in Berlin: Mit 65 Jahren, da fängt ein Leben an

Annegret R. hat vier Kinder geboren, obwohl sie selbst im Rentenalter ist. Das bewegt viele Eltern und provoziert Mediziner. Dank künstlicher Befruchtung werden Mütter immer älter. Ein Report aus Frühchenstationen und Kinderwunschpraxen in Berlin.

Von Barbara Nolte

Was ist überhaupt eine ältere Frau?“, sagt Heribert Kentenich, während er in sein Sprechzimmer bittet. Kentenich ist Gynäkologe, Ende 60. Für seinen Berufsstand gelten Frauen ab 35 bereits als alt. Werden sie schwanger, fallen sie unter den Begriff Spätgebärende. Werden sie es nicht, landen einige von ihnen bei Kentenich. Er leitet das Kinderwunschzentrum, das auf dem Campus der DRK-Kliniken Westend liegt. Es gibt kein großes Wartezimmer, dafür mehrere kleine. Kinderwunschpatienten schätzen Diskretion. Unter abstrakter Kunst sitzen dort Männer und Frauen in den 30ern, manche vielleicht in den 40ern. Niemand wirkt älter.

Kentenich zeigt auf seinem Computer die Website eines ausländischen Kollegen, der mit dem Slogan „Alles zu meiner Zeit!“ wirbt. In genervtem Ton liest er den Text weiter vor: „Finden Sie den Richtigen. Lassen Sie Ihrer Beziehung Zeit, um zu gedeihen. Mit Eizellvorsorge kein Problem!“ „Medizinisch gesehen“, sagt Kentenich, „ist das natürlich Unsinn.“

Ab 40, sagt Kentenich, verschlechterten sich die Erfolgschancen selbst bei künstlichen Befruchtungen deutlich. Als letztes Mittel bleibt die Eizelltransplantation. Sie ist eines der jüngsten reproduktionsmedizinischen Verfahren. Erst 1990 wurde entdeckt, dass die Gebärmutter bis ins hohe Alter Kinder austragen kann. Wenn sich Frauen im Reagenzglas befruchtete Eizellen einsetzen lassen, die von jüngeren Spenderinnen stammen, können sie auch nach den Wechseljahren noch Mutter werden.

Der Lüneburger Professor Andreas Bernard schreibt in seiner Habilitation über Fortpflanzungstechnologien, dass Anfang der 90er in den Reproduktionszentren Amerikas und Europas „ein Wettlauf um die älteste jemals niederkommende Mutter“ stattgefunden habe. Gewonnen hat damals der italienische Arzt Severino Antinori, der 1994 der 62-jährigen Rosanna Della Corte zu einem Sohn verhalf.

Wenn sich heute der Ruf eines Reproduktionsmediziners auf Altersrekorde gründet, ist es ein schlechter Ruf. Heribert Kentenich hat kein Verständnis für die ukrainischen Ärzte, die der 65-jährigen Berlinerin Annegret R. mindestens vier Eizellen einsetzten, damit sie jetzt Vierlinge bekommen konnte. „Hier wurde gegen ethische Prinzipien verstoßen.“ Die Kinder mussten 15 Wochen zu früh zur Welt gebracht werden und halten seitdem das Personal der Neugeborenenstation der Charité in Atem. Ob sie später behindert sind, ist ungewiss.

Was treibt späte Mütter um?

Der Fall ist in seiner Drastik natürlich nicht typisch für späte Mutterschaft und wirft dennoch ein Schlaglicht darauf. In Deutschland steigt das Durchschnittsalter von Frauen, die Kinder zur Welt bringen, seit Jahren. Und seitdem es keine natürliche Grenze mehr gibt, ist von Prominenten wie der Sängerin Gianna Nannini und der Berliner Gastronomin Isabella Baronin von Schorlemer zu lesen, die mit Mitte 50 noch Mutter werden. Was treibt späte Mütter um? Nehmen sie Risiken in Kauf?

Die Geburtshilfe in der Frauenklinik Westend hat das älteste Patientenkollektiv und die höchste Mehrlingsgeburtenrate der Stadt. Das liege, glauben die Ärzte und Schwestern dort, auch an Kentenichs Kinderwunschpraxis auf ihrem Gelände. Viele meldeten sich für die Entbindung im Backsteinbau gleich gegenüber an. Doch auf den Gängen dort sieht man eher junge Frauen. Die größte Gruppe ist zwischen 30 und 35. Berlinweit sind die 18- bis 30-Jährigen in den Kreißsälen in der Mehrzahl.

Immer unreifere Babys kommen unbeschadet durch

Chefarzt Wolfgang Hartmann berichtet von einer Patientin um die 50, deren Zwillinge er kürzlich zur Welt gebracht hat. Ihr Partner und sie hätten zuvor in einer tschechischen Kinderwunschklinik viel Geld bezahlt. „Bei älteren Frauen machen wir in der Regel Kaiserschnitte, das bedeutet maximale Sicherheit.“

Familienmensch. Annegret R. hat mit ihrer erneuten Schwangerschaft eine bundesweite Diskussion ausgelöst. Hier ist die heute 65-Jährige auf einem Archivbild aus dem Jahr 2005 zu sehen – mit ihrem 13. Kind, das damals fünf Monate alt war.
Familienmensch. Annegret R. hat mit ihrer erneuten Schwangerschaft eine bundesweite Diskussion ausgelöst. Hier ist die heute 65-Jährige auf einem Archivbild aus dem Jahr 2005 zu sehen – mit ihrem 13. Kind, das damals fünf Monate alt war.

©  David Heerde

Für Notfälle gibt es im Westend eine Intensivstation extra für Neugeborene. Der Flur ist mit Motiven aus dem „Dschungelbuch“ bemalt. In den Zimmern liegen die Babys in Inkubatoren oder Plexiglaswannen. Über ihnen Monitore, auf denen in farbigen Zackenlinien Atemfrequenz, Herzschlag und Sauerstoffsättigung des Blutes angezeigt werden. Hin und wieder jault ein Alarm auf. Dann hat bei einem Frühchen der Atem kurz ausgesetzt.

Der leitende Oberarzt Christof Kluthe berichtet von zwei großen Sorgen der Eltern: „Wird mein Kind überleben? Wird es behindert sein?“ Im Fall von Frühgeburten kann er sie meist beruhigen, zumal Frühchen unter 1000 Gramm nicht hier im Westend, sondern in der Charité versorgt werden. Die Neugeborenenmedizin habe große Fortschritte gemacht, sagt Kluthe, sodass immer unreifere Babys unbeschadet durchkommen.

Laut Kluthe besteht der größte Fortschritt darin, die Kinder mehr in Ruhe zu lassen und die Eltern einzubeziehen. Als Beispiel präsentiert er die Zwillinge im mittleren Zimmer. Sie wurden mit knapp 32 Wochen geboren. Seitdem sitzen die Eltern an ihrem Bettchen. Wenn der Alarm auf Atemaussetzer eines Kindes hinweist, krault die Mutter mit großer Gelassenheit das Baby, und der Atem stabilisiert sich wieder.

Späte Kinder müssen früh ihre Eltern pflegen

Kluthe weiß, dass manche seiner Patienten im Reagenzglas gezeugt sind, aber er weiß nicht, wer. Mehrlinge, die er oft versorgt, sind häufig das Ergebnis reproduktionsmedizinischer Behandlungen. Die Schwangerschaft endet früher, die Kinder kommen unreif zur Welt. Zurzeit liegen Drillinge auf seiner Station. Vierlinge gab es seit Jahren keine. In ganz Deutschland kamen im vorletzten Jahr, worauf sich die aktuellsten Zahlen beziehen, nur fünf Mal Vierlinge zur Welt.

Das liegt sicher auch daran, dass das Einsetzen von vier Eizellen in Deutschland ebenso wenig erlaubt ist wie Eizellenspenden. Ein Mediziner, der einer Frau gespendete Eizellen einpflanzt, kann mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden. Auch weil es sich um einen Gesetzesbruch handelt, umgibt die Methode große Heimlichkeit. In einschlägigen Foren herrscht zwar ein reger Austausch darüber. Doch eine Frau mit dem Chatnamen „Spaetemutti7“ mahnt ihre Gesprächspartnerin „Hoffnung95“, darauf zu achten, nicht erkennbar zu sein.

Die Vorsitzende der deutschen Gesellschaft für Kinderwunschberatung, Petra Thorn, sagt, dass viele ihrer Klienten eine Eizellspende im Ausland erwägen würden, wenn sie die 40 überschritten hätten. Doch öffentlich darüber reden, wollten sie in der Regel nicht. In ihrer Beratung gebe sie zu bedenken, dass manche der so entstandenen Kinder später mit ihren alten Eltern hadern würden. Außerdem hätten sie meist weder Geschwister noch Großeltern und gerieten mitunter früh in die Situation, ihre Eltern zu pflegen.

Aufgeben? "Ich dachte ans Lottospielen"

Letztlich findet sich doch eine Mutter, die über die verbotene Methode zu sprechen bereit ist. Es ist sicher kein Zufall, dass es Felicitas Schirow ist, der gesellschaftliche Konventionen wenig gelten. Als Bordellbetreiberin kämpft sie für die Rechte von Prostituierten. Schirow erzählt, dass sie schon mit 18 ein Kind haben wollte, aber nie schwanger wurde. Jahrelang sei sie Patientin von Kentenich gewesen. Bis der gesagt habe: „Lassen Sie es doch.“ Aber wenn sie wieder Geld zusammenhatte, machte sie einen neuen Versuch. „Ich sagte mir: Vielleicht klappt es jetzt. Ich dachte ans Lottospielen. Wo die eigenen Zahlen dann kommen, wenn man gerade aufgehört hat.“

Auf einen Tipp hin wechselte sie zu einem Arzt, der mit einer Klinik in Tschechien zusammenarbeitete. Gemeinsam mit der Eizellspenderin, die sie im Bekanntenkreis ausgesucht hatte, flog sie nach Pilsen, wo ihr die Eizelle eingepflanzt wurde. Mit 50 hat sie schließlich ihren Sohn geboren – im Klinikum Westend, bei Kentenich, der damals noch Chefarzt der Frauenklinik war. Noch nie sei sie für die Oma ihres Sohnes gehalten worden, sagt Schirow. Dass sie ihn womöglich nicht so lange begleiten kann wie eine jüngere Mutter, lässt sie nicht gelten: „Gut, wenn mein Sohn 20 ist, bin ich 70. Aber ich habe ihn sehr selbstständig erzogen.“

Der Kinderwunsch als Flucht vor dem Alter

Noch gibt es wenige Kinder von derart späten Müttern: Nur 87 Frauen, die 50 und älter waren, haben 2013 in Deutschland ein Kind bekommen. Doch die Hemmschwelle nimmt durch Social Freezing sicher ab – wenn bloß eigene Eizellen aufgetaut werden müssen, um ein Kind zu gebären. Die amerikanischen Erfinder der Eizelltransplantation plädierten für ihre Methode als einen weiteren Schritt zur Gleichberechtigung, schließlich seien alte Väter gesellschaftlich akzeptiert.

Heribert Kentenich, einer der Pioniere der Reproduktionsmedizin in Berlin, ist hingegen Skepsis gegen späte Mutterschaft anzumerken: Schon für 43-Jährige endete die Hälfte aller Schwangerschaften mit Fehlgeburten. Zudem bekämen Frauen in dem Alter häufiger Schwangerschaftszucker, Myomknoten und Bluthochdruck. „Für uns alle ist es das große Thema, das Altern gebacken zu kriegen“, sagt er. „Sich in fortgeschrittenem Lebensalter ein Kind zu wünschen, ist eine Flucht. Der vermeintliche Beweis der Jugend.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false