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Berlin: Spandau: Bedrohte Idylle

Seit 53 Jahren leben Hans-Joachim und Ursula Jahn auf ihrer Parzelle in der Spandauer Kleingartenkolonie "Freie Scholle". Hier haben sie 1948 ihre Eheschließung und 1998 die goldene Hochzeit gefeiert.

Seit 53 Jahren leben Hans-Joachim und Ursula Jahn auf ihrer Parzelle in der Spandauer Kleingartenkolonie "Freie Scholle". Hier haben sie 1948 ihre Eheschließung und 1998 die goldene Hochzeit gefeiert. Jetzt sollen sie ihre Idylle binnen vier Monaten räumen. Bestehen die beiden 75-jährigen Spandauer auf der gesetzlichen Kündigungsfrist zum November 2002, müssen sie auch noch den Abriss ihrer "Villa Jahn" bezahlen.

16,5 Millionen Mark hat die Deutsche Bahn AG locker gemacht, um als Ersatzmassnahme für den Bau der Schnellbahntrasse durch Spandau den Bullengraben-Grünzug herzurichten. Auf den fünf Kilometern von Staaken bis zum Havelufer sollen 915 Bäume gepflanzt, Feuchtwiesen angelegt, behindertengerechte Fuß- und Radewege sowie Brücken gebaut werden. Die "vorbildliche Kleingartenkolonie" am Päwesiner Weg wird in den Grünzug integriert, betont Hendrik Gottfriedsen, Geschäftsführer der bauausführenden Grün Berlin Park und Gärten GmbH. Dagegen müssen acht Parzellen der Freien Scholle sowie 22 weitere Schrebergärten weichen. Sie passen nicht in das geordnete Bild der heutigen Norm-Anlagen. So nutzt man die Gelegenheit zu "einer Art Kleingarten-Sanierungsplanung", wie es Grünflächenamtsleiterin Elke Hube formuliert. Den Laubenpiepern sei das Vorhaben seit Jahren bekannt, wen es tatsächlich trifft, habe erst vor einigen Wochen festgestanden. Allen werden Ersatzgrundstücke zur Freizeitnutzung angeboten.

Nach der Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft hatte Hans-Joachim Jahn 1947 das Grundstück an der Lazarusstraße gepachtet. Für die Briten transportierte er als Kraftfahrer die Luftbrückenhelfer zum Flugplatz Gatow. Einer seiner Fahrgäste war Ursula, die er ein Jahr später zum Traualtar führte. In der Freien Scholle baute er eines der in jener Zeit üblichen Behelfsheime. Nach Baugenehmigungen und Größenbeschränkungen fragte niemand im Nachkriegs-Berlin. So erhielt das Ehepaar ein Dauerwohnrecht.

Im Garten Apfel- und Magnolienbaum, im ofenbeheizten Häuschen ein gemütlicher Wohnraum, ein winziges Schlafzimmer, Küche, Bad, Toilette und ein Abstellschuppen als Kellerersatz. Strom- und Telefonanschluss, reger Flugbetrieb der Meisen an den Nistkästen. Das ist seit mehr als 50 Jahren ihr Zuhause, mehr brauchen die Jahns nicht zum Leben. Wenn sie hier bis November verschwunden sind, so hat es ihnen der Bezirksverband der Kleingärtner in Aussicht gestellt, zahlt die Bahn eine höhere Entschädigung und übernimmt die Abrisskosten - alles in allem eine fünfstellige Summe.

Horst Reichert, Teilprojektleiter beim DB Projekt Verkehrsbau, geht davon aus, dass die meisten Laubenpieper das Angebot annehmen. Tun sie es nicht, droht der Zeitplan in Verzug zu geraten. Man werde den Jahns eine "bezahlbare Wohnung" anbieten, versichert Elke Hube. Doch die können sich nicht vorstellen, nach einem halben Jahrhundert in eine Mietskaserne zu ziehen. du-

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