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Berlin: Sprechende Orte

Eine Ausstellung in vier Containern erinnert an die Geschichte der Migration in Berlin

Bestimmt war es die Idee der Mutter: Die drei kleinen Jungs tragen alle die gleichen dunkelroten Pullunder. Vielleicht gucken die beiden Älteren deshalb so ernst in die Kamera. Die Mutter klammert sich steif an ihre Handtasche, der schnauzbärtige Vater sitzt wie versteinert in seinem guten Anzug daneben. Die Familie ist gerade beim Fototermin bei der Fotografin Charlotte Mathesie an der Adalbertstraße in Kreuzberg. 200 Familien, die als Gastarbeiter aus der Türkei und anderen Ländern gekommen sind, hat Mathesie im Laufe ihres Berufslebens zwischen 1945 und 1993 fotografiert.

Mindestens 35 Jahre muss die Aufnahme der Pullunderfamilie her sein. Lange lag das Foto als Negativ auf dem Dachboden des Kreuzbergmuseums. Aber jetzt hängt es frisch auf Fotopapier gezogen in einem roten Container, der als merkwürdiger Fremdkörper auf dem Oranienplatz in Kreuzberg steht.

Der Container ist einer von vieren, die in den nächsten drei Wochen als temporäre Ausstellungsorte in Berlin zu sehen sind: Auch am Ostbahnhof, auf dem Tempelhofer Feld und am Waterloo-Ufer beim Halleschen Tor stehen die „Gedächtnis-Boxen“, wie sie die Organisatoren des Projekts „Berliner Route der Migration“ nennen, zu dem die Ausstellung gehört. Anlass für die Aktion ist der 50. Jahrestag des Gastarbeiter-Anwerbeabkommens mit der Türkei am 22. Oktober.

Aber es geht längst nicht nur um Gastarbeiter und Migration im 20. Jahrhundert. Die Ausstellung reist mehrere Jahrhunderte zurück, etwa zu den Hugenotten, die sich im 17. Jahrhundert um den heutigen Oranienplatz ansiedelten. „Wir wollen Migration im alltäglichen Stadtbild sichtbar machen“, sagt die Architektin Cagla Ilk, die die Ausstellung mitkonzipiert hat. Migration habe bisher in der Erinnerungskultur der Stadt gefehlt, sagt Rainer Ohliger vom Netzwerk Migration in Europa, der die Ausstellung koordiniert.

Zusätzlich zu den vier Containern hat das Büro des Integrationsbeauftragten des Senats, Günter Piening, für die „Route der Migration“ insgesamt 150 Orte ausgesucht und über sie eine Broschüre veröffentlicht. Aus Pienings Büro kam der Anstoß zu dem Projekt – Piening nennt es: „Orte zum Sprechen bringen.“ Das haben vor allem Studenten von HU und der FU getan. Wie Jonna Jostis, Studentin der Europäischen Ethnologie an der HU – ihre Studiengruppe sichtete die Dias auf dem Dachboden des Kreuzbergmuseums und fand viele Familienfotos, von denen 34 nun im Container am Oranienplatz hängen.

Ihre Fotoauswahl haben Jonna Jostis und ihre Kommilitonen älteren Migranten gezeigt und die Gespräche aufgezeichnet. Schauspieler haben die Aufnahmen nachgesprochen und jetzt kann man per Kopfhörer im Container hören, was die Senioren gesagt haben, während man die Bilder betrachtet. Einige der alten Leute erkannten ehemalige Nachbarn. Und der Vater der drei Jungs im dunkelroten Pullunder erkannte sich und seine Familie: „Das sind ja meine Söhne“, hört man ihn sagen. Der älteste lebe jetzt in Oslo, einer der jüngeren arbeite an der Uni. Daniela Martens

Die Container sind dienstags bis sonntags, 11–17.30 Uhr geöffnet, Gruppenführungen auf Anfrage unter ohliger@network- migration.org; die Broschüre gibt es unter www.berlin.de/lb/intmig/publikationen/dokus/index.html.

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