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Berlin: Stadt der Burgen

Hunderte alte Villen schmücken die Straßen in Lichterfelde. Ein Immobilienhändler entwickelte seit 1865 die Gartenstadt – und endete in der Nervenheilanstalt. Gustav Lilienthal hatte mehr Glück: Er baute viel gerühmte Häuser mit Türmen und Zinnen.

Von Andreas Austilat

Der Mann war Architekt, also im Stande, sich sein Haus selbst zu bauen. Aber knapp bei Kasse war er auch. So erwarb Gustav Lilienthal draußen in Lichterfelde-West das kleinste Grundstück weit und breit, nur wenig über 200 Quadratmeter. Seine Frau beklagte sich zuweilen über spottende Passanten, die sich wohl nicht recht vorstellen konnten, was man denn mit so einer Parzelle anfangen sollte. Doch Lilienthal brachte sie zum Schweigen: Er errichtete sich 1891 am Tietzenweg 51 eine Ritterburg, mit Erkern, Zinnen, Türmchen und oben drüber flatterte ein Wimpel. Die Botschaft des Weitgereisten, der in Prag, Paris, London und Melbourne gearbeitet hatte, war eindeutig: My home is my castle.

Das Gebäude wurde ein Schlager. Lilienthal baute 30 ähnliche Häuser in den nächsten sechs Jahren – die meisten ganz in der Nähe, darunter noch eines für sich selbst in der Marthastraße und eines für seinen Bruder Otto Lilienthal, den ersten Flieger. Das ist jetzt über 100 Jahre her. Aber bis heute sind 22 dieser Burgen in Lichterfelde erhalten. Der südwestliche Ortsteil ist also dank Lilienthal im Wortsinn das bürgerliche Berlin.

Den Boden aber hatte ein anderer schon vorher bereitet: Johann Anton Wilhelm Carstenn. Heute würde man ihn einen Projektentwickler nennen, damals hatte er in Wandsbek bei Hamburg vorgeführt, wie man ein heruntergekommenes Rittergut in einen grünen Vorort verwandelt. Danach machte er sich nach Berlin auf, zu zeigen, wie man hier erfolgreich eine Villenkolonie gründet – und darüber in der Nervenheilanstalt landet.

Als Carstenn 1865 antrat, breitete sich Berlin in alle Richtungen aus. Wie aber würden die Menschen die wachsenden Entfernungen zwischen Wohnung und Arbeit bewältigen? Der öffentliche Nahverkehr stand am Anfang, und James Hobrecht, Berlins oberster Stadtplaner, wollte die Menschen eher im Zentrum halten: Er propagierte die Mietskaserne als Schmelztiegel mit den Wohlhabenden in der Beletage des Vorderhauses und Zilles Milieu in lichtlosen Hinterhöfen.

Carstenn glaubte, dass das aufstrebende, nicht reiche, aber gut situierte Bürgertum ganz etwas anderes wollte: eine grüne Idylle, in die er seine Kunden nur hinauslocken musste. Der Mann kaufte also zwei alte Rittergüter und ließ allein aus einer Hamburger Baumschule für 126 000 Mark Bäume kommen – für die Alleen, die er plante. Er verhandelte mit den Bahngesellschaften, bot ihnen Garantiesummen, wenn sie denn an den neuen S-Bahnhöfen Lichterfelde-West und -Ost halten würden – wobei Lichterfelde-Ost, also die Gegend zwischen S-Bahnhof und Teltowkanal, die etwas ältere Siedlung ist. Beide Bahnhöfe ließ Carstenn selbst aufwendig bauen. So erinnert die Station Lichterfelde West an eine italienische Villa, wie sie Schinkelschüler Persius in Potsdam mehrfach errichtete.

Carstenn ließ seine Grundstücke parzellieren, sorgte für die Infrastruktur, ließ ein Restaurant errichten. Als Bauherr aber trat er selten auf. Die Häuser mussten sich die Klienten meist selbst errichten. Damit ihm aber niemand das schöne, grüne Bild verdarb, erließ er für seine Siedlung eine Bauvorschrift, die der Kundschaft zum Beispiel vorgab, mindestens zehn bis 24 Meter Vorgarten einzuplanen.

Bis hierhin ging sein Vorhaben auf, macht seine Idee bis heute den Reiz Lichterfeldes aus. Zwar war der wirtschaftliche Verwertungsdruck auf den recht großen Grundstücke enorm – aber zumindest Lichterfelde-West gilt seit 1978 als geschützter Baubereich, eine Bürgerinitiative stritt über Jahrzehnte für den Ensembleschutz. Das alte Bild mit den Alleebäumen und großen Gärten blieb in weiten Teilen erhalten.

Die Lichterfelder Villa ist im Gegensatz zu den Villen der einstigen Superreichen in Dahlem oder Grunewald überwiegend kleinmaßstäblicher, sie war mitunter von Anfang an als Doppelhaus, Reihenhaus oder auch Mehrfamilienhaus konzipiert. Weshalb Architekt Gustav Lilienthal der richtige Mann für Carstenns Pläne war – obwohl er erst antrat, als Carstenn schon am Ende war. Hinter Lilienthals Burgfassaden verbergen sich für die Zeit außerordentlich moderne Häuser. Der Architekt war ein Verfechter des material- und kostensparenden Bauens, plante familienfreundliche Grundrisse – Räume nur zur Repräsentation hatten dort keinen Platz. Und die romantischen Zinnen oder Burggräben hatten durchaus praktischen Nutzen. Erstere dienten der Zentralheizung als Abluftschächte, der Graben brachte Licht ins Souterrain.

Kolonie-Gründer Carstenn selbst machte allerdings einen schweren Fehler, er ließ sich mit dem Militär ein. Es ging um den Bau einer Hauptkadettenanstalt, in der alle preußischen Kadetten künftig den letzten Schliff erhalten sollten.

Carstenn wollte mit dem Militär neue Kunden in seine Siedlung ziehen und schenkte deshalb dem Staat das Gelände der Hauptkadettenanstalt an der Finckensteinallee. Auch deren Bau finanzierte Carstenn, doch an den Folgekosten für die Infrastruktur sollte er zerbrechen – dazu zählte auch die erste elektrische Straßenbahn der Welt. Sie verband das Gelände mit beiden S-Bahnhöfen. Ruiniert landete Carstenn in einem Schöneberger Sanatorium. Am Ende erhielt er wegen seiner Verdienste zumindest ein Ehrengrab an der Lichterfelder Dorfkirche.

Das Militär prägte noch viele Jahre die Gesellschaft des Vorortes, nicht immer zu dessen Vorteil, wie Julius Posener, Doyen der deutschen Architekturgeschichte, in seinen posthum gerade erst erschienenen „Heimlichen Erinnerungen“ über die 20er Jahre bemerkt: „Lichterfelde war stramm deutschnational“ – und wenig aufgeschlossen.

Den furchtbaren Tiefpunkt brachte die Nazizeit. Anwohner berichteten von Schüssen in der Kaserne Finckensteinallee – der einstigen Hauptkadettenanstalt, die heute das Bundesarchiv beherbergt. Das war 1934 beim Röhm-Putsch: SS massakrierte SA. Acht Jahre später wurde zwischen Wismarer Straße und Teltowkanal eine Außenstelle des Konzentrationslagers Sachsenhausen eingerichtet. An das unselige Erbe erinnert heute eine Tafel am Eingang zum Bundesarchiv und eine kleine Gedenkstätte für die Opfer des KZs am Teltowkanal.

Lichterfeldes militärisches Erbe ist längst Vergangenheit, spätestens, seit die Amerikaner die Kasernen an der Finckensteinallee 1994 geräumt haben. Damals drohte dem Ortsteil neue Gefahr, der Nachwuchs schien auszugehen, das Quartier zum Museum zu erstarren. Inzwischen ist der Generationenwechsel aber in vollem Gange. Und die Freiflächen auf dem ehemaligen Kasernengelände sowie an der Goerzallee werden mit neuen Siedlungen bebaut. Nicht immer erfolgreich – wieder ging manchem Bauträger die Luft aus, wie einst Carstenn.

Doch die Folgen sind unübersehbar. Die Clemens-Brentano-Grundschule mitten im Quartier bekam vor sieben Jahren gerade noch zwei erste Klassen zusammen. In diesem Jahr sind es vier.

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