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Abschied vom Provisorium: Besuchen Sie das Ostkreuz - so lange es noch rostet

Poetisch, weil nicht für die Ewigkeit gebaut: Der Schriftsteller und Tagesspiegel-Kolumnist Jochen Schmidt verabschiedet das Provisorium Ostkreuz.

Bevor ein Gebäude entsteht, wird an der Brache eine Schautafel mit einer Computergrafik aufgestellt, auf der Computermenschen lächelnd den neuen Glasturm betreten, in dem sich ihr Büro befindet. In der Zeitung war auf so einer Grafik der Bahnhof Ostkreuz nach seinem Umbau zu sehen. Wird er dann auch eine dieser Shopping-Malls sein? Es ist ja kaum noch möglich, auf einem Bahnhof zu erkennen, in welcher Stadt man sich befindet, weil alle Bahnhöfe gleich aussehen, wie ja auch alle Einkaufsstraßen und alle Kaufhäuser gleich aussehen.

In den Medien hat niemand ein gutes Wort für den alten Bahnhof Ostkreuz, der natürlich renoviert werden muss. Man erlebt hier Reisen mit der Bahn noch als einen Vorgang, der mit Technik zu tun hat. Nebenan im Bremsenwerk hatte ich „Einführung in die Sozialistische Produktion“. Beim Aussteigen um sechs Uhr morgens kam ich mir damals immer vor wie in einem Film aus den dreißiger Jahren. Der Zug der schweigenden Arbeiter, eine Thermoskanne in der Ledertasche, Zigarette im Mundwinkel. Der Bahnhof hat sich seitdem kaum verändert, umso mehr die Menschen. Jedes Mal, wenn ich hier umsteige, nehme ich Abschied. Weil immer wieder daran gebosselt wurde, gibt es in den Wartezeiten viel zu entdecken, die Poesie des Provisoriums. Man kann z. B. die Kabelstränge betrachten und versuchen, ein System zu erkennen.

Das Provisorium ist ja die einzig akzeptable Seinsform. Es ist viel poetischer, wenn Dinge nicht für die Ewigkeit gebaut werden, sondern wenn ein bisschen Spielraum für den Zweifel bleibt. Das Ergebnis ist ein Gebäude, in dem man lesen kann wie in einem Tagebuch. In Ost-Berlin ergänzten sich Überbleibsel aus der Kaiserzeit mit Provisorien aus dem Sozialismus. Noch hängen die alten Fahnenhalter am Bahnhof Ostkreuz. Seit der letzten WM wird ja wieder überall geflaggt, aber die hier werden trotzdem verschwinden.

Verbringen Sie einen Tag am Ostkreuz, solange es noch rostet. Fotos vom Fortgang der Bauarbeiten unter www.ostkreuzblog.de

Jochen Schmidt

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