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Marzahn

© David Heerde

Berliner Bezirke: Marzahn macht sich nackig

Ein Kalender soll mit dem Plattenbau-Image des Bezirks aufräumen: Junge Bewohner des Bezirks zeigen sich darin „splitterfasernackt, offen und liebevoll“.

Sie können sich den Mund fusselig reden, dass sie glücklich und zufrieden sind. Dass sie gerne in ihrem Bezirk leben. Dass sie stolz sind auf die vielen Grünflächen und auf das Wahrzeichen ihres Bezirks, eine Bockwindmühle, in der ein richtiger Müller richtiges Mehl mahlt. Nur glaubt ihnen das kaum jemand. Marzahn-Hellersdorf mit seinen 250 000 Einwohnern, von denen zwei Drittel in den 100 000 Neubauwohnungen wohnen, ist für viele ein ausschließlich negativer Bezirk: eine triste Plattenbausiedlung, wo Hoffnungslosigkeit und sozialer Abstieg herrschen, wo rechts und links der Allee der Kosmonauten 13 000 Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion leben, wo Rechtsradikale ihr Unwesen treiben. Anfang August ist in einer großen überregionalen Tageszeitung wieder so ein Bild gezeichnet worden: „Marzahn, das ist ein Vorwurf am Rande der Stadt“, heißt es in einem Artikel der FAZ.

„Marzahn-Hellersdorf ist modern, jung, bunt, tolerant und sexy“, schallt es aus einem Plattenbau am vierspurigen Blumberger Damm, wenige Kilometer vom Erholungspark Marzahn und vom Wuhletal entfernt. In einem sanierten sechsstöckigen Gebäude betreibt die gemeinnützige GmbH „urban social“ in einem Modellprojekt ein Wohnheim für Kriegsflüchtlinge, Obdachlose, ausländische und deutsche Jugendliche. Das Haus beherbergt außerdem eine Bildungs- und Begegnungsstätte und die Jugendinitiative „Jede(r) anders – alle gleich“. Diese begegnet den Vorurteilen und Klischees über ihren Bezirk jetzt mit nackten Tatsachen: 31 junge Anwohner und eine Sozialarbeiterin haben sich splitterfasernackt ausgezogen und vor Wahrzeichen ihres Bezirks fotografiert.

Es sind offenherzige Bekenntnisse von jungen Erwachsenen verschiedener Nationalitäten, viele Deutsche, ein Pole, ein Chinese, ein Engländer, ein Tschetschene, von Jugendlichen, die eine Ausbildung gemacht haben, von Studenten und von solchen, die arbeitslos sind, von Gesunden und Behinderten. Sie alle eint, dass sie ihren Bezirk zeigen wollen, wie sie ihn sehen: lebenswert. Sie zeigen sich beim Blumengießen im Bürgerpark, beim Lesen auf dem Sofa im Wohnzimmer, beim Reiten am Kaulsdorfer Elsensee, beim Gitarrespielen im Akazienwäldchen am Springpfuhlpark. Eine junge Frau sitzt im Regine-Hildebrandt-Park in ihrem Rollstuhl, eine junge Frau spielt Golf in Berlins erster Filzgolf-Anlage, ein junger Mann posiert im Gründerzeitmuseum Mahlsdorf. Veröffentlicht sind die Bilder in dem Aktkalender „Mein Berliner Bezirk: Marzahn-Hellersdorf“ für 2008 und das erste Quartal 2009.

Sebastian Blumberg ist der junge Mann, der im Gründerzeitmuseum mit Zylinder und Gehstock inmitten alter Möbel von Charlotte von Mahlsdorf posiert. Er hat das Kalenderprojekt betreut. „Das ist ein echter Hingucker“, schwärmt der junge Mann mit den sorgfältig blondierten und frisierten Haaren. Mit dem Erlös des ersten Aktkalenders, für den im vergangenen Jahr mit 18 Jugendlichen viel weniger die Hüllen fallen ließen als dieses Jahr, wurde sein Ein-Euro-Job bei „Pro-social“, wo er auch seinen Zivildienst gemacht und später ehrenamtlich gearbeitet hat, in eine feste Stelle umgewandelt. Der 24-jährige Kfz-Mechaniker lebt seit kurz nach seiner Geburt in Marzahn-Hellersdorf. „Davon 16 Jahre in derselben Wohnung!“, sagt er stolz. Jetzt wohnt er mit seiner Freundin, die im Kalender einen Rhododendronstrauch gießt, im achten Stock eines Elfgeschossers „mit einem wunderbaren Ausblick!“

Auf die Frage „Was ist sexy an Marzahn-Hellersdorf?“, kommt seine Antwort wie aus der Pistole geschossen: „Sexy sind die Gebäude, die Parks, die Freizeitmöglichkeiten.“ Jenny, die vor 18 Jahren in Marzahn-Hellersdorf geboren wurde und in dem Kalender mit einem Fernglas in der Hand auf einer Aussichtsplattform posiert, muss kurz überlegen. „Die vielen Freiräume für Kinder finde ich gut.“ Jenny hat nach der neunten Klasse die Schule verlassen und ist jetzt im Mutterschaftsjahr. Sie hat den Kalender auch für ihren fast eineinhalbjährigen Sohn Jimmy Jason gemacht. „Damit er später mal sagen kann: Mama, ich bin stolz auf dich.“ Auch sie findet, dass ihr Bezirk zu schlecht dargestellt wird. „Es gibt Gutes und Schlechtes“, sagt sie, „kein Viertel ist perfekt.“

Xiaoyuan ist ein 21-jähriger Student aus Peking, der vor einem Jahr nach Marzahn-Hellersdorf kam. Ihm ist es besonders schwergefallen, nackt Querflöte zu spielen. „Ich fand aber die Idee schön“, sagt er schüchtern. „Marzahn hat viel Grün und frische Luft.“ Wenn er Anfang September zurück nach China fliegt, wird er den freizügigen Kalender „vielleicht“ seiner Familie zeigen.

Die drei Jugendlichen sitzen im Büro von Hans-Jörg Muhs, 54, dem Geschäftsführer von „Pro-social“, zu DDR-Zeiten Schriftsetzer und Kulturwissenschaftler. Er spricht von den „klassischen Vorurteilen“ gegen Marzahn-Hellersdorf, verschweigt aber auch die Probleme nicht, die es gibt. „Klar gibt es Rassismus, wie in anderen Bezirken auch“, sagt er. „Es kann aber nicht sein“, schimpft er, „dass der Stadtteil immer so dargestellt wird, als ob aus ihm nichts werden kann.“

Auf den Zeitungsartikel von Anfang August haben Hans-Jörg Muhs und Sebastian Blumreich mit einem Leserbrief reagiert. „Hier werden die Stereotypen, allgegenwärtigen Klischees bedient, um eine Berliner Kommune des Berliner Ostens und seine Menschen, insbesondere auch seine Jugend, zu diffamieren“, heißt es da. Sie bitten um ein differenziertes Bild und werben für ihren Aktkalender, in dem sich Jugendliche „splitterfasernackt, völlig offen und liebevoll“ zu Marzahn-Hellersdorf bekennen.

Gegen eine Spende von acht Euro ist der Kalender übers Internet zu beziehen: www.pro-social.de/Aktkalender/Kalender.htm

Barbara Bollwahn

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