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Bergmannstraße in Kreuzberg: Auf der Bergmannstraße tobt das Leben.

© Kitty Kleist-Heinrich

Berliner Lebensadern (4): Bergmannstraße: Das große Fressen

Straßen erzählen Kiezgeschichten und Lebensgeschichten. Die Bergmannstraße bleibt trotz steigender Mieten Kreuzbergs Wohlfühlmeile.

Im Jahr 2007 wurde die Marheinekehalle, die laut Eigenwerbung zur Bergmannstraße gehört wie der Bär zu Berlin, renoviert, und es gab noch einmal großen Protest im Viertel. Anwohner hatten Sorge, der morbide Charme der 1892 eröffneten Markthalle gehe mit der Sanierung verloren – und mit ihm gewissermaßen der Gemütlichkeitsgeist des gesamten Kiezes, der sich nördlich und südlich der Bergmannstraße vom Mehringdamm bis zum Südstern erstreckt. Es wurden Protestplakate geklebt, innerhalb weniger Wochen stellte die Nachbarschaft ein beeindruckendes Anti-Umbau-Kulturfest in der Halle zusammen. Und als die unter Druck geratenen Betreiber zu einem Infoabend in die Passionskirche luden, erschienen sage und schreibe 800 Interessierte. Man hatte mit ein paar dauernölenden Späthippies gerechnet und war ob des starken Bürgerengagements doch erstaunt.

Nach einigen Diskussionen beruhigten sich die Gemüter wieder – immerhin, das Kreuzberger Kiez-Wir war wieder gestärkt – und die Halle bekam doch ihr „neues Gesicht“. Schicker grauer Boden, viel Licht und vor allem viel Luft zwischen den Verkaufsständen, deren Waren bei so viel Leere drumherum gleich wie leckere Kunstwerke wirkten. Das Motto der neuen Halle: Bio. Frisch. Regional. Besonders schön angerichtet waren bei der Eröffnung die Salate der vegetarischen Imbisskette Gorilla. Da hatte der Zeitgeist-Wirt allerdings die Rechnung ohne die Laufkundschaft gemacht. Sanierung und Entkernung schön und gut, das ist der Lauf der Zeit – aber ein Imbiss ohne Fleisch? Wir befinden uns schließlich nicht in Prenzlauer Berg, wo der junge (oder ewig junge) Mensch aus Angst vor der Style-Polizei jede Mode mitmacht, sondern im beschaulichen West-Kreuzberg. Hier gehen Widerstand und Hedonismus seit den Hausbesetzertagen aus den Achtzigern gemütlich Hand in Hand. Die Bulette bleibt also uff’m Tella! – auch wenn sie jetzt Bio-Burger heißt. Nach zwei, drei Monaten musste der ambitionierte Imbiss wieder schließen.

Was die Anekdote erzählt? Erstens: Der Bergmannstraßen-Kreuzberger lässt sich seine Bodenständigkeit trotz aller Revieraufhübschung nicht nehmen. Zweitens: Auf der Bergmannstraße geht es sehr, sehr viel ums Essen.

Auch das übrigens traditionell. Das Kulinarische spielte schon eine zentrale Rolle, als die Bergmannstraße noch Weinbergsweg hieß, Anfang des 19. Jahrhunderts, wegen der Weinberge, die sich die Hänge des Tempelhofer Berges hinaufzogen, wo während der Gründerzeit die Straßenzüge mit den noch immer gut erhaltenen Altbauten um den Chamissoplatz angelegt wurden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts aber endete die Stadt Berlin noch am Halleschen Tor und alles südlich davon war schon janz weit draußen. Das Areal gehörte der Familie Bergemann, und da diese den Weinbergsweg ausbaute, wurde er am 20. April 1837 nach Marie Luise Bergemann benannt. So kam die Bergmannstraße, an der sich bald die ersten Ausflugslokale ansiedelten, zu ihrem Namen.

Dem Wein und den Lokalen ist die Straße treu geblieben, allein drei Weingeschäfte gibt es auf der Bergmannstraße, die in der Markthalle und den Nachbarstraßen nicht mitgerechnet. Und die Terrassen der zwei, drei Dutzend Lokalitäten, die sich praktischerweise über die Bürgersteige vom Mehringdamm bis zum östlichen Ende des Marheinekeplatzes erstrecken, bilden vermutlich den größten Mittagstisch Berlins.

Die internationalen Restaurants und Stehimbisse waren es, die – im Verbund mit den vielen Trödlern – die Bergmannstraße in der jüngeren Vergangenheit berühmt und in die Reiseführer gebracht haben. Die internationale Küche stand dabei für multikulturelles Laissez-faire, die Trödler repräsentierten das andere, improvisierte Leben. Die Bergmannstraße verkörperte also genau jene Bilder, die der West-Deutsche in den achtziger Jahren mit West-Berlin verband (nur ohne Krawall), stand und steht aber genau deshalb in Gefahr, zum Klischee zu erstarren, zur Disney-Version ihrer selbst zu mutieren.

„Fressmeile“, „Touristenschleuse“ und „Ku’damm Kreuzbergs“ wird die Bergmannstraße deshalb abfällig von denen genannt, die ihren Wandel beklagen. Dabei ist eigentlich nicht der Wandel verwunderlich, sondern die Tatsache, dass er erst so spät statt findet. Es stimmt natürlich: Vor einigen Jahren gab es mehr Trödler und mehr arabische Imbisse, und die Cafés sahen mehrheitlich so aus wie das Turandot, dessen Gäste noch immer wirken, als würden sie – Tabaksbeutel neben dem Bierglas, die Lederjacken mit dem Körper verwachsen – mit sentimentalem Blick seit den achtziger Jahren hier hocken.

Heute dominieren Cafés mit Coffee-to-Go- und Wlan-Service, thailändische und vietnamesische Schnellrestaurants mit spartanischer Zen-Möblierung und trendige Läden für Umhängetaschen und tief sitzende Hosen. Im letzten Jahr wurde außerdem das große Gesundheitszentrum in der Bergmann 5 eröffnet, in dessen Erdgeschoss ein Erlebnis-Kaiser’s werktags bis 24 Uhr die Bevölkerung mit Nahrungsmitteln versorgt. Parallel dazu hat sich die dänische Immobilienfirma Taekker in Monopoly-Manier einmal durch den Kiez gekauft, und die Mieten sind auf 9 Euro pro Quadratmeter gestiegen. Man kann also sagen, die Mittisierung der Bergmannstraße ist so gut wie abgeschlossen. Nach dem Handelsindex 2009/2010 des Berliner Unternehmens „Grupe – Die Einzelhandelsmakler“ weist das Einzugsgebiet der Bergmannstraße mit einem Kaufkraftindex von 111 eine hohe Kaufkraft auf (100 entspricht dem Berliner Durchschnitt).

Erwähnen sollte man allerdings auch, dass das Einzugsgebiet manchmal kaum dreißig Meter reicht. Die meisten Läden in den Seitenstraßen kämpfen ums Überleben. Der Wandel ist also nicht zu bestreiten. Nicht zu bestreiten ist allerdings auch, dass die Klage über die Kommerzialisierung des Kiezes zur Bergmannstraßen-Folklore gehört wie die Knoblauchzöpfe an der Markise des Feinkostladens Knofi. Selbst die Bergmannstraßenbeschimpfungen sogenannter Bergmannstraßen-Originale schlagen früher oder später in ein Lob um – zumindest in das gegrummelte Eingeständnis, dass sich das Besondere des Kiezes erstaunlicherweise trotz des neuen Oberflächendesigns erhalten hat.

Die Bergmannstraße ist noch immer Kreuzbergs Wohlfühlstraße. Das mag vor allem an der sich Jahrzehnte gebildeten Bevölkerungsmischung liegen. Im pittoresken Chamissokiez (wo schon Rudolf Thome und Jodie Foster Filme drehten) wohnen noch immer viele Lehrer und Professoren, in den Straßen nördlich der Bergmannstraße viele Ausländer, die selbst immer mehr Läden eröffnen, keine Trödel, sondern Cafés und 18 Stunden geöffnete Wir-haben-alles-Shops. Ein Bewohner, der – „mit altem Mietvertrag“ – schon so lange in der Gegend wohnt, dass er 1975 die Gefangennahme des CDU-Politikers Peter Lorenz durch Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ in der Schenkendorfstraße 7 mitbekommen haben könnte, schwärmt von der „völlig unaggressiven Atmosphäre“. Hat das mit den wie Pilze aus dem Boden schießenden Yogaschulen zu tun? Oder doch mit der besonderen Lage? Das Gewusel auf der westlichen Bergmannstraße wird durch die Stille auf dem verwunschenen östlichen Teil – seit 2008 offiziell Fahrradstraße – ausgeglichen, während der Marheinekeplatz in der Mitte wie ein Dorfplatz ruht.

Bevor es zu idyllisch wird, fragen wir lieber einen Ladenbesitzer, von dem es heißt, er werde regelmäßig von Jugendgangs überfallen. „Ach dit“, sagt er auf Nachfrage. „Jahre her, außerdem waren die Jungs gar nicht von hier. Nee, nee, hier beißt keener mehr.“

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