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BERLINER WEIHNACHTSMÄRCHEN Ein Fortsetzungsroman mit vier Autoren und vier Folgen. Folge 4: Nachglühende Herzen

All you need is love – auf dem Weg zum Fest, vorbei am Feuer vor der Nazarethkirche, zum Kind im Zeltverschlag auf dem Flugfeld. Von Katja Lange-Müller

Was bisher geschah: Berlin ist 2025 eine angesagte, wohlhabende Stadt. Nur Familien gibt es kaum noch – dafür aber den Weihnachtsagenten, der den Singles zum Fest das passende Personal beschafft, Opa, Gattin und auch Kinder. Bis eines Tages jemand in der Tür steht und behauptet, er wäre der wahre Weihnachtsmann und wolle das Fest retten. Und für den Weihnachtsagenten beginnt das Chaos.

Was bleibt mir übrig, als dem mutmaßlichen Feind, diesem halt- und arbeitslosen, Onlinepoker spielenden Kleinkünstler-Schausteller-Gesindel einen Deal anzubieten, mich auf die Strümpfe zu machen in Richtung Rollfeldbrache Tegel, zumal mich die Caritas nicht nur mit dem doofen roten Mantel, sondern auch mit einem Paar Frotteesocken vom Grabbel- oder Gabentisch der vorjährigen Saison und halbwegs passenden tannengrünen Tretern beschenkt hat. Jetzt habe ich ja Zeit – und Druck, zumindest bis morgen, doch wahrscheinlich weitaus länger. Denn falls an dem Ultimatum was dran ist, falls wir Weihnachtsversager wirklich ab 2035 das antifamiliäre Sommerfest „Einachten“ feiern sollten, werde ich mich wohl nach einem anderen Betätigungsfeld umschauen, eine neue innovative Idee ausbrüten und dennoch alles geben müssen, um eventuell wieder Fuß zu fassen im kreativen Dienstleistungsbusiness.

Aber erst mal retten, was vielleicht nicht zu retten ist: Weihnachten, den „Geist der Weihnacht“. Fragt sich nur, was bedeutet das schon – oder richtiger: noch? Wenn man die Wörter ein bisschen anders schriebe, ergäbe sich gleich ein ganz anderer Sinn; Achtung, Wein-Achten! oder Wein achten!, den achten Weingeist achten! ... Ich sehe mein künftiges Firmenlogo förmlich vor mir: Acht Flaschen, und drüber schwebt ein stilisierter Dschinn mit einer roten Zipfelmütze, der ganz entfernt an den guten alten Weihnachtsmann erinnert oder an den ebenso alten, gar nicht guten Deutschen Michel.

Weit bin ich gekommen, so tief in Gedanken; da vorn ist der U-Bahnhof Schwarzkopfstraße, hinter dem der Wedding beginnt, dem sich Tegel anschließt. Auf der Baustelle links, dort, wo einst ein Walter-Ulbricht-Stadion gewesen sein soll und der Bundesnachrichtendienst, peinlicherweise gebremst von einem Finanzskandal staatskrisenhaften Ausmaßes, seit vier Jahren an seiner neuen Hauptzentrale basteln lässt, ragen die seit Wochen verlassenen Kräne still und finster in den Nachthimmel, der über dem Leo allerdings rötlich leuchtet.

Und wie ich näher und näher komme, erblicke ich eine große Menschentraube, lauter Alte, sicher an die zwei-, dreihundert – versammelt um ein gewaltiges Lagerfeuer, das vermutlich keine anderen als sie entfacht haben, mitten auf dem Leopoldplatz, vor der Nazarethkirche! Und mir entgeht auch nicht, dass sich vier, fünf rüstige Greise gegen den lautstarken Protest einiger ihrer Sitzgelegenheit beraubten Penner die letzte Parkbank schnappen, die sie dann mit Schwung und der Hilfe weiterer Veteranen in die lustig auflodernden Flammen schmeißen. Weil mir kalt genug ist in dem ungefütterten roten Fummel, lenke ich meine Schritte zum Feuer – und werde mit ausgebreiteten Armen empfangen von einer vollreifen, zahnlos lachenden Frau. Sie steht hinter einem mächtigen Kessel, dessen dampfender Inhalt betörend duftet, nach Zimt und Alkohol. Die Alte lässt ihre Arme sinken, taucht ein Henkeltöpfchen in den Kessel, reicht es mir gut gefüllt, drückt mir einen Poststempel auf den Rücken meiner fest um das Töpfchen geschlossenen Hand und flüstert heiser: „Acht Glühweine, mit Asbach, für jeden, und jeden Abend! Das Abo ist unübertragbar, und der hier, du Frischling, dein erster.“

„Was soll der Ungeiz“, frage ich. Ist das ’ne Werbeaktion für Billigrotspoon im Tetrapack oder Reklame für die PDS/SPD?“

„Nee“, kontert sie kichernd, „das is Weihnachtsanarchie, und erst der Anfang davon. Den Grundstoff ham wir akquiriert, also besorgt, bei der Berliner Tafel, fast ganz legal.“

Ich habe gerade mal an dem starken, süßen Gesöff genippt, als mir die nächste Alte entgegentorkelt; eingemummelt in ihr winterweißes Kopftuch zückt sie einen ölig-warm riechenden Spinatbörek und ruft: „Für dich. Brauchst nur bisschen mitzumachen bei uns Wedding-Sister’s oder da drüben bei gemischte Engelschor.“

Tatsächlich, auf den Stufen der Nazarethkirche haben sich etliche Gestalten zusammengerottet; unter ihnen entdecke ich auch die ihrer Heimatbank verlustig gegangenen, mittlerweile dennoch recht angeheiterten Penner. Becher schwenkend grölen sie los, „La Paloma“, „Abschied ist ein scharfes Schwert“, „Nie mehr allein“, „He Joe“, „All you need is love“.

„Das sind doch keine Adventslieder“, sage ich zu dem schwarzen Bruder rechts neben mir, den ich womöglich schon mal irgendwo gesehen habe.

„Is wurscht“, erwidert der, „Hauptsache wir singen. Das lieben die Götter, alle.“

Im Vorgefühl neuer Hoffnung und gerade deshalb verwirrt, trotte ich zurück zu der Glühweinfee, lasse mir mein Kontingent ausschenken und sieben weitere Poststempel aufdrücken und denke: So gut durchgewärmt schaffst du die paar Kilometer bis Tegel-Randzone sicher auch noch.

„Kannst dich ja wieder herschicken“, ruft die Alte nach, „und nu pass uff, dass du deine zweite Adresse nich verfehlst.“

Ich machte mich also schweren Herzens, aber doch irgendwie beschwingt vom Acker. Gern hätte ich meine Glühweinration gemütlicher eingenommen, gern wäre ich noch ein Weilchen geblieben bei den netten Alten; immerhin habe ich ja eine Option auf Rückkehr. Im Gehen verputze ich den Rest meines Spinatbörek, und da hinterm Leo Ruhe herrscht, werde ich philosophisch. Warum, frage ich mich, während mein Profiauge die Fassaden zu beiden Seiten der ewig langen Müllerstraße ableuchtet, sind die Balkonilluminationen eigentlich umso verschwenderischer und, zugegeben, auch kitschiger, je trostloser die Gegend ist. Warum hauen diese Leute, die seit anno Schnee von der Stütze leben, für solchen Schnulli derart viel Kohle raus? Okay, bei der BWAG kriegen die vielleicht Rabatt, oder sie hängen schwarz am Netz, doch allein die Bäume und die Lichterketten, die Neonrehe, die Kletternikoläuse … Womöglich ist wirklich der ganze Kommerz schuld an der ethischen Verflachung jenes Rituals, das ursprünglich Christi Geburt galt? Sehr wahrscheinlich, durchfährt es mich beinahe stolz, hat nicht zuletzt meine Scheißagentur ihren dicken, fetten Anteil am allgemeinen Werteniedergang. Nie hatten wir Hirten im Programm, keine Kaspars, Melchiors und Balthasars, die auch richtige, von uns spendierte Geschenke dabeigehabt hätten, immer bloß Omas, Opas, Scheinehefrauen und -männer, getürkte Kinder aus der Dominikanischen Republik mit implantierten Minimalsprachchips. Der Fokus lag ganz klar auf Familie, Familie. Und was war mit der Botschaft? Gut, die Schwedische, ausgerechnet die, hat uns auch zwei, drei Mal gebucht.

Von wegen „in Tegel gibt’s lock’re Vögel“, wie es im alten Liede heißt. Kein Mensch nirgends, offenbar alle Luken, Kneipen, Anwohner dicht.

Es zieht mächtig am Rollfeld des ehemaligen Flughafens, der längst zu einer wilden Mülldeponie verkommen ist, nichts weit und breit, nur ein paar stinkig qualmende Abfallhäufchen. Aber dort, im Schutz der Towerruine, da flackern doch ein paar Glüh- oder Taschenlämpchen?! Und jetzt erkenne ich am Nordrand des Rollfeldes, hinterm löchrigen, teilweise runtergelatschten Maschendrahtzaun auch etliche meterhohe, halb lichtdurchlässige Wände, Planen wahrscheinlich, über die Schatten geistern, menschliche Silhouetten.

Ich stehe vor dem Einschlupf in eines der Zelte und zögere. Was will ich hier? Drinnen zupft jemand Gitarre, irgendetwas aus meiner Schulzeit, nicht ganz gut, nicht richtig schlecht. Ich höre ein Baby weinen und eine Frauenstimme beschwichtigend flüstern, bis das Baby wieder leise ist. Man muss mich von drinnen gesehen haben, denn ein Junge, etwa fünfzehn, barhäuptig und mit offener Wattejacke, schlägt die Zeltplane zurück, grinst mich an, sagt: „Was is, Alter, willste dir noch lange die Beene in’ Bauch stehen?“

Also trete ich ein. Etwa dreißig junge und sehr junge Menschen sitzen ringsum auf Strohsäcken und Matratzen, trinken Tee aus Thermosflaschen, manche haben Laptops auf den Knien, manche schlafen, einer liest im Licht einer Stumpenkerze, wie ich eingeschüchtert feststelle, Goethes „Wahlverwandtschaften“. Ein kleiner, blasser Bengel zeigt mir sein zahmes Tierchen. „Skandinavische Weißfußratte“, erklärt er, „heißt Elfriede und spielt gerne, mit jedem.“

„Pflanz dich hin“, sagt der, der mich eingelassen hat. „Willste Tee? Zucker is nich, leider ...“

Die junge Mutter mit dem stillen, doch wachen, knopfäugigen Baby lächelt mich an und ergänzt: „Bumsen auch nicht, aber Weihnachten, leider. In genau fünf Minuten“, fügt sie auf ihre Armbanduhr blickend hinzu.

Max, der Vater von dem Bengel, dem, wie ich nun erfahre, nicht nur Elfriede gehört, sondern auch deren einundzwanzig Kinder aus zwei Würfen, schenkt mir Tee nach und dann einen „prima aufgemöbelten“ Laptop samt dreißig Euro Gratiseinsatz für „Big Interpoker“. Und weil ich nichts sage, fragt er mich, ob ich müde sei und ob ich „was zum Zudecken“ brauche.

Nee, nee, denke ich und schnäuze mich verstohlen in den Saum meines Mäntelchens, die waren das nicht, die haben mir nicht dieses wattebärtige Schlitzohr, diesen Knecht Ruprecht oder Unrecht auf den Hals geschickt, die führen keine feindliche Übernahme im Schilde, die brauchen keinen Weihnachtsladen für bezahltes Singleglück unterm PVC-„Oh Tannenbaum“, und wenn doch, dann is es auch egal.

„Ihr Lieben“, sage ich mit brüchiger Stimme, „ich hab nüscht für euch, nich mal mehr einen halben Spinatbörek. Aber nun packt mal schön eure Gören, Ratten und Klampfen ein, denn bei den Alten am Leo, da gibt’s acht große Kellen Punsch pro Nase und selbst gesungene Musik und ein Feuerchen, das brennt heller und wohlriechender als eure dort draußen, und es wird noch zwei Nächte brennen und lange nachglühen in meinem frisch aufgetauten Herzen, bis … na, mindestens bis Ostern.“

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