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Stadtleben: Die Knuddel-Kinder

Ersatzfamilie – im Chat gefunden, am Alex getroffen

Es nieselt auf den Brunnen der Freundschaft. Ein Mädchen kommt aus dem U-Bahnschacht. Es läuft geradewegs auf „Sweetsugar18“ zu. Und küsst das kleinere brünette Mädchen mit der üppigen Oberweite mitten auf den Mund. Daneben steht „Milly16“, blonde Ponyfrisur, ziemlich groß. Sie hat eine Flasche mit buntem Etikett in der Hand: Pfirsich-Litschi-Sekt „Fruchtiger Engel“. „Der hat nur fünf Prozent Alkohol, das ist doch nix“, sagt sie. Eine Hand kommt von links: „Ey, lass die Flasche los“, ruft „Milly16“. Um die Mädchen herum stehen viele andere Grüppchen Jugendlicher – die meisten zum Schutz vor dem Regen unter dem Übergang zwischen Kaufhof und dem Gebäude nebenan.

Kurz nach acht, Freitagabend, Berlin Alexanderplatz. Die drei Mädchen und die etwa 100 anderen Jugendlichen sind hier jeden Freitag ab sieben zu treffen. Sie haben sich über den Internet-Chat „Knuddels.de“ verabredet: „Kommst du CT Brunnen?“ – „Alles klar.“ Das versteht hier jeder: CT heißt Chattertreff. Rund drei Millionen Mitglieder hat die Internetseite in Deutschland, die meisten sind jünger als 17. Jede Stadt hat einen eigenen „Channel“, auf dem man die anderen Chatter aus der Nähe findet.

„Knuddels ist mein Leben“, sagt „Sweetsugar18“ theatralisch. „Suchten gehn“, nennt sie das Chatten. Und sie macht es so oft wie möglich: „Ich bin traurig, wenn ich mal einen Tag nicht dazu komme.“ Kritiker warnen, dass die Suchtgefahr von Knuddels.de höher sei als bei anderen Chats. Es sei nicht nur eine Kommunikationsmöglichkeit wie üblich, sondern es werde eine eigene Gesellschaft aufgebaut. „Sweetsugar18“ ist im Heim groß geworden und hatte vorher nicht viele Freunde. Vor zwei Monaten hat sie zum ersten Mal bei Knuddels.de gechattet – und gleich ihren „besten Freund“ kennengelernt, erzählt sie stolz. An diesem Abend ist er noch nicht aufgetaucht. „Hier habe ich meinen Seelenfrieden gefunden“, sagt sie. „Das ist wie Familie.“

Die kann man sich bei Knuddels regelrecht zusammenbauen: „Das ist meine Chat-Tochter“, sagt die 18-Jährige „Knutschimausi89“ und legt den Arm um die zwei Jahre jüngere „Sweetmelly@13“. Sie hätten sich alle „sooo lieb“, dass sie sich als Bruder, Tochter und Schwester begrüßten. „Meine ganzen Freunde sind hier“, sagt Sweetmelly.

Und was machen sie dort bis in die frühen Morgenstunden? „Quatschen und andere auslachen“, sagt „Sweetsugar18“. „Und saufen.“ Letzte Woche habe sie einen „üblen Absturz“ gehabt. Etwas entfernt taucht jetzt ein Polizist bei einem anderen Grüppchen auf: „Scheiße, sie hat eine Wodkaflasche“, sagt „Supersüßerboy87“ entsetzt. Eins der Mädchen da drüben sei noch zu jung dazu. Immer wieder gebe es wegen des Alkohols Platzverweise. Das hindert ihn aber nicht, einen tiefen Schluck von seinem „Sauren Apfel“-Schnaps zu nehmen. Er ist schon 20.

„Das Beste bei Knuddels ist doch, dass man da Mädchen findet,“ sagt er. Er sei mit einer Knuddels-Chatterin aus Flensburg zusammen. Die anderen lachen ungläubig. Denn der dürre bleiche Junge ist alles andere als „supersüß“. Vor allem müsste er mit seinen braunen Zahnstummeln dringend zum Zahnarzt – damit ihn auch mal jemand auf den Mund küsst. Daniela Martens

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