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Kretzschmar

© Uwe Steinert

Einzelhandel: Schöne Bescherung

Ein Kiezladen in Prenzlauer Berg sollte schließen, darf jetzt aber weitermachen - weil Anwohner sich dafür einsetzten. Für das "Schmuckkäst’le" unterm Alexanderplatz geht dagegen am Heiligabend eine 50-jährige Tradition zu Ende.

Im Kiez ist er der Mann für Notfälle. Keine Kartoffeln im Haus fürs Sonntagsessen? In Dirk Kretzschmars Lädchen an der Raumerstraße 2 in Prenzlauer Berg standen gestern vier Kunden wegen Kartoffelsäckchen an, kaum hatte der 40-Jährige punkt 11 Uhr die Rollläden hochgezogen. Eine Frau griff erleichtert zu Glühbirnen, ein Mann holte den bestellten Spezialtabak ab. Alle fragten: „Müssen Sie zum 31. raus, Herr Kretzschmar, oder können Sie weitermachen? Der Händler mit den schütteren Haaren strahlte: „Ich bleibe, der Vermieter gibt mir nun doch ’nen neuen Vertrag.“ Das hat sich vor ein paar Tagen entschieden, es erscheint Kretzschmar wie sein persönliches Weihnachtsmärchen. Zumal viele treue Kunden kräftig daran mitgewirkt haben. Sie sammelten im Kiez 500 Unterschriften zur Rettung des Ladens.

Denn im Spätsommer war Dirk Kretzschmar selbst zum Notfall geworden. Da hatte ihm sein Vermieter nach 15 Jahren die Kündigung geschickt. Der schlanke Mann lächelt verlegen. „Ich versuchte, zu verhandeln. Doch erstmal ohne Erfolg.“

Unterdessen ging die Nachricht schnell im Kiez herum und man war sich einig: Wir unternehmen etwas, der Laden ist eine Institution. Denn alles, was dort nachgefragt wird, liegt wie im klassischen Tante Emma-Laden in den Regalen. Ausgesuchte Weine und Zigaretten, auch weniger verbreitete Zeitschriften, Gemüse, Getränke, Pflanzen und Blumenkübel.

Seit 1992 steht Kretzschmar hier an der Kasse. In Pankow ist er Zuhause, lernte Dreher und Fräser, doch nach der Wende war er bald arbeitslos, rechte als ABMler Friedhofswege – bis er an der Raumerstraße den kleinen Markt eröffnete. Von morgens 7 Uhr bis zum späten Abend ist er dort nahezu täglich präsent, ohne Urlaub und im Winter ohne Heizung. Aber mit hohem Risiko, überfallen zu werden. Vier Mal hat er das bisher erlebt, letztmals im vergangenen Herbst. Da habe ihm ein Typ mit Motorradbrille ein Messer an die Brust gehalten, als er in aller Frühe den Laden öffnete. Kretzschmar schrie, der Mann ergriff die Flucht.

„Mit hohem Arbeitsaufwand kann man vom Laden leben“, sagt er. „Ich hab’ wenigstens einen Job, falle niemandem zur Last.“ Außerdem freut er sich über die jungen Familien, die sich manchmal mit ihren Kinderwägen zwischen seinen Regalen stauen; über alte Leute, die ihre Kaffeesorte bei ihm bestellen und die vielen, die ihn auf der Straße grüßen, obwohl er dabei schon den Überblick verliert.

„Dieser Kiez hat sich seit der Wende unglaublich verändert“, sagt Kretschmar und weist vor der Ladentür zum Helmholtzplatz. „Hier war alles trist und grau, jetzt brummt das Leben.“ Und er bleibt nun doch mittendrin. Nachdem er die 500 Unterschriften dem Vermieter schickte, reagierte der mit einem „neuen, guten Vertragsangebot“. Ab Januar wird der Laden drei Monate saniert, so lange muss Kretschmar raus. Danach ist er wieder da – für alle Notfälle. CS

Mehr als 60 000 Menschen laufen tagtäglich über die 80 Meter lange Ladenpassage im Zwischengeschoss des U-Bahnhofs Alexanderplatz. Trotz der vorweihnachtlichen Hektik legten gestern viele eine Pause vor einem Laden neben der Treppe zur U 8 ein. Manche warfen nur einen Blick in die Schaufenster, über denen mit leuchtgrüner Schrift „Ellenbergers Schmuckkäst’le“ steht. Die meisten wurden von den Schildern angelockt, die ankündigten, dass das Schmuckkäst’le am 24. Dezember um 13 Uhr für immer schließen wird.

„Damit stirbt ein Stück Berliner Tradition“, sagt Evelin Glasow. Die 69-Jährige kennt den kleinen Schmuckladen seit über 30 Jahren. „Hier bin ich auch zu DDR-Zeiten freundlich und individuell bedient worden“, erzählt sie: „Oft hatte Herr Ellenberger was Besonderes – Bernstein zum Beispiel, den gab es so selten. Ich überlege, ob ich Heiligabend nochmal vorbeikomme. Meine Tochter hat sich schon am Sonnabend wie viele Kunden von den Ellenbergers verabschiedet. Alle waren traurig. “

„Natürlich sind wir traurig, aber das ist ja normal“, sagt Uwe Ellenberger, der das „Schmuckkäst’le“ vor sieben Jahren von seinen Eltern übernommen hat. In dritter Generation sozusagen, denn die Geschichte des kleinen Familienunternehmens begann vor 73 Jahren auf – wie könnte es anders sein – einem Weihnachtsmarkt im Lustgarten. Da war das Käst’le noch ein Stand, mit dem die Familie von Markt zu Markt zog: bis Augsburg, Königsberg und Bremen. Später kamen Läden auf Usedom hinzu und 1938 das erste Geschäft in der Münzstraße in Berlin-Mitte. Seit 1954 gibt es „Ellenbergers Schmuckkäst’le“ in der Ladenstraße am U-Bahnhof Alexanderplatz, der jetzige Standort wurde 1982 bezogen.

Der nur 40 Quadratmeter große Laden wirkt mit der Kastendecke aus Holz und den ebenfalls hölzernen und sehr stabilenVitrinen gemütlich und nostalgisch. Doch er passt angeblich nicht in das neue Konzept der BVG für den Umbau der Ladenpassage. Ellenberger sollte das Geschäft vergrößern, den Umbau bezahlen und danach monatlich fast das Fünffache der jetzigen Miete. Das konnte und wollte er nicht. Also hat ihm die BVG zum 31.12.2007 gekündigt – „einseitig und nach Jahrzehnte langer pünktlicher Mietzahlung“, wie im Schaufenster steht.

Mehr will Uwe Ellenberger auch gar nicht mehr dazu sagen. „Wurde ja schon genug darüber berichtet“, brummt er gestern ins Telefon. „Hat aber alles nichts genutzt.“ Viele Menschen, die sich gestern noch einmal an den Auslagen des Schmuckkäst’le erfreuten, verstehen ebenso wenig wie er, warum die kleinen denkmalgeschützten Läden nun supermodernen Imbissbuden weichen müssen. Heute wird Uwe Ellenberger zum letzten Mal seinen Laden öffnen. Bis 13 Uhr. Dann ist endgültig Schluss. das

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