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Goerz-Höfe: Wie in Gründerzeiten

Eine wahre Kreativfabrik: Bis in die 30er wurde in den Goerz-Höfen geforscht, heute wird dort auf allen Etagen getanzt und gewerkelt. Sogar Shakira hat schon in Friedenau geprobt.

Immer wieder samstags erlebt Eva Kelly auf dem Weg zu ihrer Musicalschule eine Zeitreise. Die beginnt an der Rheinstraße in Friedenau kurz vor 10 Uhr. Dort biegt die 14-Jährige auf dem Weg zum Unterricht in Tanz, Schauspiel und Gesang vor dem Haus Nummer 45 in eine Toreinfahrt ein und läuft nun mit jedem Schritt ein Stück zurück in die Berliner Vergangenheit. Endstation Kaiserzeit: Um sie herum Klinkermauern mit Rundbogenfenstern, Türmchen, Reliefs der Backsteingotik und jeder Menge Lofts.

Eva steht in den Goerz-Höfen, einem denkmalgeschützten Industrieensemble, das zunehmend von Kreativen entdeckt wird. Jetzt strebt sie im Hof Nummer 2 einer Eisentür zu, dem Eingang zum einstigen Lastenaufzug. Andere Schüler drängeln hinterher. Die Tür kracht ins Schloss, der Fahrstuhl ruckt an.

Der Aufzug ist die Attraktion für junge Leute auf dem Weg nach oben. Früher wurden darin Linsen und Gehäuse für Fernrohre, Projektoren und andere optische Geräte der Firma „Optische Anstalt C.P. Goerz“ transportiert. Ein Unternehmen mit Weltruf, das bis in die späten 30er Jahre an der Rheinstraße 2500 Menschen beschäftigte. Nun steigt der Aufzug mit den Kindern hinauf zu einer neu eingezogenen „Fabrik“ im dritten Stock, wo sich heute alles um die Bühnenkunst dreht. Dort empfängt sie ein Quartett: Per Mörkeberg, Oliver Kraatz und die Maskottchen der „Stagefactory“, Bobtail Nelson und Labrador-Hündin Opala.

Die Vier treten in der Regel gemeinsam auf. Mörkeberg, 50, Tänzer und ehemals Ensemblemitglied des Theater des Westens (TdW), leitet heute in den Goerz-Höfen zusammen mit Schauspieler Oliver Kraatz, 40, eine der größten Freizeit-Musical- und Theaterschulen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in der Stadt. Zuvor betrieben sie seit 2005 ihre Schule in den Räumen der Königin-Luise-Stiftung in Steglitz. Als der Platz dort für mehr als 230 Schüler nicht mehr ausreichte, suchten sie ein neues Domizil und entdeckten im Herbst 2009 in den Goerz-Höfen ihre heutige Etage. Sie stand seit vier Jahren leer. Nach eigenen Ideen ließen sie die Studios und Säle auf etwa 900 Quadratmetern sanieren. Den Charme der Gründerzeit bewahrten sie, wo immer es auch ging.

Genietete Stahlträger durchziehen die Lounge, durch Loftfenster schweift der Blick auf den rotgeklinkerten Schornstein und die Höfe. Im Handumdrehen hat sich die Stagefactory als neues Vorzeigeprojekt der Goerz-Höfe in Berlins Theater- und Kleinkunstkreisen herumgesprochen. Schauspielerin und Sängerin Helen Schneider ist die Schirmherrin, Entertainerin Gayle Tuft probte dort mit Band für ihre neue Show „Everybody’s Showgirl“, Shakira bereitete sich auf ihren Auftritt in der O2-World vor, Musicalstar Cusch Jung vom Theater des Westens, Berlins bekanntester Schellack-DJ Stephan Wuthe oder Chansonniers wie Angelika Mann und Robert Kreis gehören zu den Unterstützern.

„Viele Kreative sind erstaunt, dass es in Friedenau genauso faszinierende Industriebauten und Lofts wie in Mitte gibt“, sagt Jens Kleininger von der Immobiliengruppe Becker & Kries. Zu deren Bestand gehören auch das Ullsteinhaus in Tempelhof und die Askania-Höfe an der Bundesallee in Friedenau. Schon in den 60er Jahren übernahm das Unternehmen die Goerz-Höfe. Doch erst in den vergangenen Jahren entwickelte sich das Industriedenkmal zum kreativen Zentrum. Der „Mitte-Hype“ sei vorbei, meint Kleininger. So gehören zu den 70 Mietern neben Agenturen, Verlagen, Architekten oder Sportstudios auch eine Werkstatt für Kinderkunst oder die Agentur „Chris Creatures“ für Special Effects in Filmen. Hier entstanden beispielsweise die Puppe und digitale Version des „Rennschweins Rudi Rüssel“ – als Stunt-Ersatz für Situationen, in denen das echte Filmferkel zu gefährdet gewesen wäre.

Tänzchen in Friedenau. Architekten, Agenturen, Werkstätten – sie alle haben im Industriebau ihren Sitz. Und natürlich auch die Musicalschule. Fotos: Thilo Rückeis (2), Uwe Steinert
Tänzchen in Friedenau. Architekten, Agenturen, Werkstätten – sie alle haben im Industriebau ihren Sitz. Und natürlich auch die Musicalschule. Fotos: Thilo Rückeis (2), Uwe Steinert

© uwe steinert

Unterm Dach arbeitet der Bildhauer und Maler Jorge Machold in seinem Atelier. Früher wurden im Turm Periskope für U-Boote getestet. Auch das wiederbelebte Steglitzer Schlossparktheater von Dieter Hallervorden hat in den Goerz-Höfen Probenräume. Und im Parterre lässt Christoph Hartmann, Oboist bei den Philharmonikern, seiner zweiten Leidenschaft für Fahrräder freien Lauf. 2009 eröffnete er mit Partnern einen Radsalon für maßgeschneiderte Rennbikes – die Villa Pasculli, benannt nach Antonio Pasculli, dem Paganini der Oboe im 19. Jahrhundert.

Für die 14-jährige Eva Kelly sind die Goerz-Höfe schon wegen der phantasievollen Firmennamen auf den Etagenschildern „spannend“. Drei Stunden Unterricht hat sie samstags in der Stagefactory. Sie sieht das als Vorbereitung für ihren Traumberuf – Musicaldarstellerin.

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