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Heinrich Zille

© ddp

Heinrich Zille: Hier war sein Milljöh

Morgen ist der 150. Geburtstag Heinrich Zilles. Was erinnert in Berlin heute noch an Menschen und Orte, die er zeichnete und fotografierte?

Auch wenn er lange weg war – er war immer da. Beinah hätten sie sein Museum im Nikolaiviertel wegen Zastermangel dichtgemacht, aber dann kam ein Retter, renovierte den Laden und sagte: Was wäre Berlin eigentlich ohne ihn? Öde, janz öde. Da fehlte wat Wichtijet: die olle Seele. Jetzt, zu seinem 150. Geburtstag am 10. Januar, gibt es den Meister pur und satt: Die Akademie ehrt ihren Professor mit einer große Ausstellung, ’n neues Denkmal wird errichtet, und im Fernsehen blicken sie zurück in uralte Zeiten, zu Vata Zille mitte Brille inne Destille, wie er so da sitzt, sein Zigarrenstummel guckt neugierig aus dem Bart, und den Zeichenblock anstarrt. Da sind sie alle versammelt, diese Berlinerinnen und Berliner aus den Hinterhöfen und Badeanstalten, die Kinder der Straße in Schwarz-Weiß und Color, die spacken Kerle und die drallen Weiber mit den dicken Hintern. Sie jammern nicht, wenn ihnen auch danach zumute ist – sie machen ihre Witze. Sitzt ein Mann in der Stadt- und Ringbahn, kommt der Kontrolleur: „Sie fahren schon zum vierten Mal um Berlin, wo woll’n Sie denn hin?!“ – „Jar nich! Ick lese Zeitung, det Petroleum is mir zu teier!“ Oder: Frühling, zwei Jören im Hinterhof. Einer ruft nach oben: „Mutta, jib doch die zwee Blumentöppe raus, Lieschen sitzt so jerne ins Jrüne.“

Was ist von „Vater Zille“, dem „Pinselheinrich“ mit dem Fotoapparat, vom „Raffael der Hinterhöfe“ oder vom „Daumier von der Spree“ übrig geblieben? Wo laufen sie denn, die kessen Mädchen unter den (wieder ganz modernen) Hüten und die jungen Herren mit den flotten Bärten? Wir schließen uns einem aktuellen Stattreisen-Spaziergang an, „janz schön obszön – Tragik und Komik in Zilles Milljöh“. Zwei Dutzend Zille-Fans treffen sich am Bahnhof Nöldnerplatz und wandern wacker durch den Schneeregen zur Fischerstraße 8. Vor einem verwilderten Garten erfahren wir, dass hier Zilles Eltern 1872 ein Grundstück erworben hatten. Frühe Zeichnungen zeigen den „Lichtenberger Kiez“.

Ralph Hoppe, der kundige Stattreisenmann, erzählt vom talentierten Knaben, seiner Liebe zu Hulda und zur Lithografie, und wir fahren zum Alexanderplatz. Mittenmang zaubert der Zille-Führer plötzlich die Berolina hervor, dieses meterhohe Prachtweib mit dem nach Osten weisenden, ausgestreckten Arm, das auf der Zille-Zeichnung sagt: Kinder, da lang gehts zum Obdachlosenasyl (in der Fröbelstraße). An der Volksbühne ist das einstige Scheunenviertel nicht fern, hier, nahe der früheren Mulackritze, ist der rechte Ort für die derben Hurengespräche mit Bollenjuste an der Spitze – ein Häusergiebel von damals steht noch in der Hirtenstraße, mehr nicht. Das Restaurant „Zum Nußbaum“ auf unserer letzten Station ist eine ins Nikolaiviertel gebaute Kopie, aber hier finden die Touristen, was sie vielleicht lange gesucht haben: einen authentischen Ort, den der Meister außen wie innen verewigt hat, in Bild und Wort: Im Nußbaum links vom Molkenmarcht / Da wird mit Zaster nich jekarcht / Und trinkt man keene Lorke. / Es fliegt ja leider manchet Mal / Een Backzahn ooch durch det Lokal, / Sonst aber is et knorke!

In der Sophie-Charlotte-Straße 88 hat er gewohnt, bis zu seinem Tode am 9. August 1929. Viele kamen damals, um den Mal-Professor auf seinem letzten Weg zum Waldfriedhof Stahnsdorf zu begleiten. In Charlottenburg gibt es die Zille-Straße, in der Nummer 69, auf dem zweiten Hinterhof, treffen wir den Möbeltischler Christian Elissavitis Lilge, der uns ganz stolz erzählt, dass in dem Straßenstück von der 65 bis zur 78 „nur Zillaner“ wohnen, Urgestalten mit „unmissverständlicher Freundlichkeit“. Und gleich um die Ecke lockt uns eine richtig urige Destille, die noch genauso dasteht, wie sie von Wilhelm Hoeck 1892 gegründet wurde. In einer der vielen Zeichnungen aus dem Kneipenmilieu hat Zille den Tresen, die Gäste, die Gläser und Flaschen in dem hohen, dunklen Regal verewigt, aber der Jung-Chef Arne Wiedenhöft macht daraus keinen Kult, ohne Zille-Tümelei gibt es hier Solei, Buletten, Knacker, Hackepeter und Blutwurst mit Sauerkraut, da hätte Zille zugelangt.

Wo aber ist denn nun das viel zitierte Milljöh geblieben? Kellerlöcher und Außenklowohnungen, mit denen man die Leute erschlagen kann, haben wir nicht mehr. Aber wo ist das andere? Ein schlagfertiger Witz, der aus dem Herzen kommt und mehr wert ist als eine schöne Gegend? Das, was Nichtberliner „Herz und Schnauze“ nennen? Früher hat man das im Gemüseladen in Prenzlauer Berg, beim Kohlenmann und in der Eckkneipe gehört, heute muss man Glück haben, wenn man an einen Busfahrer oder Taxilenker gerät, der sein Herz auf der Zunge trägt. In Neukölln und im Wedding in der Kneipe, da haben wir das manchmal noch. Auf dem Wochenmarkt. Oder bei Union auf dem Fußballplatz.

Nur – wo ist der Zille von heute, der das ins Bild setzt?

Früher gab es im Osten Erich Schmitt und im Westen Oskar, die Zeichner und Karikaturisten, und im Fernsehen hatten wir die Wahl zwischen Wolfgang Neuss und Wolfgang Gruner, Gerd E. Schäfer und Helga Hahnemann. Und heute? Cindy aus Marzahn und Kurt Krömer sind kleine Lichtblicke, aber könnte der RBB nicht öfter die Zilles von heute aus den Berliner Kabaretts (Distel, Gutes Wedding, schlechtes Wedding, Wühlmäuse) vor die Linse locken? Ist nur mal so eine Schnapsidee nach dem dritten Malteser in der ollen Destille vom alten, großen Meister Zille.

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