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Herien Wensink, "NRC Handelsblad", Gastredakteurin beim Tagesspiegel.

© Thilo Rückeis

Holländische Sicht: Berlin hat einen Minderwertigkeitskomplex

Unsere holländische Kollegin Herien Wensink vom „NRC Handelsblad“ war zwei Monate als Gastredakteurin beim Tagesspiegel. Ihre Meinung über Berlin hat sie hier aufgeschrieben.

Berlin ist eine Metropole mit Minderwertigkeitskomplex. Eine der tollsten Städte der Welt, beliebt bei Touristen, Partygängern, Künstlern und Musikern aus allen Teilen der Welt, aber ihre Einwohner sind noch immer überrascht, wenn ein Ausländer erzählt, dass er Berlin liebt. Ich fand es lustig, wie geehrt sich Berliner scheinbar fühlen, wenn zum Beispiel ein bekannter amerikanischer Darsteller die Stadt besucht. Jeden Tag sieht man das dann in der Zeitung, und in der Tageschau: „Ein Celebrity in Town!“ Wie wunderbar! Als es in der Berlinischen Galerie Aufnahmen gab für den amerikanischen Film „Unknown White Male“, wurde das stolz auf verschiedenen Zetteln überall im Gebäude angekündigt. Als ob sie es kaum glauben könnten. Als ob das nie passiert. Als ob Berlin nicht, wie in den Zwanzigerjahren, wieder das kulturelle Zentrum Europas ist.

Wenn man diese Haltung einmal als Bescheidenheit betrachtet, fallen plötzlich noch mehr solcher Sachen auf. Wie geehrt Berliner sich zum Beispiel fühlen, wenn man ihre Kneipe oder ihr Restaurant besucht. Sie scheinen wirklich froh, dass man etwas bestellen möchte. Und wenige sind so dankbar wie die Berliner Bedienung, der man ein Trinkgeld zusteckt. Wie anders ist dass in meiner Stadt, Amsterdam, wo die Bedienung immer gelangweilt und blasiert ist. Ihrer Meinung nach müssen die Kunden froh sein, dass sie in ihre Kneipe gehen dürfen, statt andersherum. Zwar dauert es in Berlin ähnlich lange, bis man etwas bestellen kann, und das Bestellte nachher auch tatsächlich bekommt. Aber die Berliner Bedienung macht das zumindest fast immer mit guter Laune.

Sie lesen Bücher in der U-Bahn!

Bescheiden fand ich die Berliner auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Die meisten Fahrgäste sind ganz ruhig, sie gucken einander nicht so unverschämt an, und sie lesen sogar Bücher! Vielleicht nur, weil es hier keine Gratis-Zeitungen gibt, aber immerhin noch: In den Niederlanden sieht man das kaum. Die Plakate im U-Bahn-Zug: „Psst.. Kleiner Tipp, dein Handy ist kein Lautsprecher!“ scheinen hier außerdem wirklich Wirkung zu haben. Ich habe einmal erlebt, dass eine junge Frau ein ganz kurzes und aus holländischer Sicht fast lautloses Telefongespräch führte, und sich dafür hinterher ausführlich entschuldigte. Das passiert in den Niederlanden nie.

So ruhig wie die Berliner in den öffentlichen Verkehrsmitteln sind, so prunklos sind sie bei ihrer Kleidung. Mir fiel zum Beispiel auf, dass so wenige Frauen hier Stöckelabsätze tragen. Ihre Kleidung scheint oft originell, improvisiert, selbst gefertigt oder aus zweiter Hand. Für Niederländer, und besonders Amsterdamer, ist das eine willkommene Abwechslung. Denn in der niederländischen Hauptstadt ist "posh" leider die aktuelle Modelaune: die größten Designersonnenbrillen, die teuersten Louis-Vuitton-Taschen, einen schicken Wagen, übertrieben auffällige Schmuckstücke: Jeder will zeigen, dass er Geld hat. Berliner haben es entweder einfach nicht, oder zeigen es nicht - sind nicht so öffentlich stolz darauf. Amsterdam ist oft ein bisschen wie ein Luxuswettbewerb. Dass es das hier weniger gibt, war für mich eine Erleichterung. Ist es vielleicht ein historisches, ehemaliges Ost-Deutsches Misstrauen gegenüber dem Kapitalismus? Jedenfalls ist diese Haltung in Zeiten der Finanzkrise vielleicht nicht das schlimmste.

Ein Freund von mir, er ist Berliner, bedauert es dass so wenige Berlinerinnen sich aufdonnern. Das verstehe ich. Andersherum geht das mir auch so: Leider sehen Berliner Männer oft ein wenig unauffällig oder sogar ein bisschen feminin aus. Ich sehe selten einen Berliner Mann stolz einen Anzug tragen. Hat diese Angst vor Männlichkeit, hat diese Abneigung gegen Machismus und Uniformiertheit vielleicht noch mit den Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs zu tun? Wenn das tatsächlich der Fall ist, ist das sehr bedauernswert. Aber ich glaube auch, dass das tief verwurzelte Kriegstrauma teilweise auch zu dieser großen Bescheidenheit führt, eine sympathische Eigenschaft, die die Holländer seit langem verloren haben - wenn wir sie überhaupt jemals gehabt haben.

Nicht besonders stolz auf die eigene Stadt

Obwohl Besucher Berlin immer preisen, scheinen die Berliner selbst nicht besonderes stolz auf ihre Stadt zu sein. Sie sind zum Beispiel oft erstaunt, dass jemand aus Amsterdam freiwillig in Berlin leben möchte. Ein Verkäufer in einem Laden hat mich wirklich gefragt: „Du lebst in Amsterdam? Was machst du denn hier?“ Er hat mir gesagt, man muss maximal zwei Jahre in Berlin wohnen. Und: Berlin macht einsam. Natürlich liebte er Amsterdam.

Sind die beiden Meinungen schlichtweg die Begeisterung von jemandem der nur kurz irgendwo im Ausland ist? Vielleicht. Und vielleicht ist die Kombination „Deutsch“ und „stolz“ noch immer mühselig. Völlig zu Unrecht, weil es hier neben den vorhergehenden Beispielen noch viele andere Sachen gibt, auf die Amsterdamer richtig eifersüchtig sind.

Obwohl Amsterdam bei vielen Ausländern noch immer den Ruf hat, eine spannende, tolerante, freie Stadt zu sein, ist es das eigentlich seit zwanzig Jahren nicht mehr. Kneipen müssen immer um zwei Uhr schließen, in Clubs wird es kaum später als fünf Uhr. Bewohner des Zentrums meckern so oft über Lärm, dass eine dynamische Innenstadt fast unmöglich geworden ist. Komplizierte Verfahrensweisen für Genehmigungen führen dazu dass jede spontane Initiative im Keim erstickt wird. Pikante Clubs wie Berghain oder Kit Kat gibt’s in Amsterdam seit den achtziger Jahren überhaupt nicht mehr.

Statt bei Künstlern und anderen Kreativen, die heutzutage oft nach Rotterdam (oder Berlin) umziehen, ist Amsterdam jetzt beliebt bei Notaren und Maklern. Deswegen sind die Preise in der Hauptstadt, zum Beispiel in Kneipen, Clubs und Restaurants, aber auch die Häuserpreise, wirklich himmelhoch. Das hat zur Folge, dass es in der Innenstadt wenig Bewegung, wenig Erneuerung gibt. Amsterdam ist wirklich dekadent im Sinne der römischen Bedeutung: vorbei der Höhepunkt, und wieder auf dem Rückweg.

Erleichterung für Amsterdamer

Wahrscheinlich gibt es auch Berliner die genau dasselbe über ihre Stadt denken. Sicher wird auch Berlin langsam bürgerlicher, manchmal vielleicht sogar spießig. Immobilienunternehmer verwandeln alte Bezirke in Disneyfarbige Vergnügungsparks. Häuserpreise steigen schnell, auf der Friedrichstraße ist schickes Aussehen kein Tabu. Obwohl die coolsten Clubs noch immer alternativ und im Untergrund sind, hat Berlin heutzutage auch eine luxuriöse Szene fürs Ausgehen. Es gibt sogar einen Touristenführer der „The hedonist guide to Berlin“ heißt („Der Hedonisten-Führer für Berlin“). Und was wird passieren wenn Berlin in Kürze erstmal einen anständigen Flughafen besitzt?

Aber, der Amsterdamer sieht in Berlin vor allem noch das, was er zu Hause jetzt vermisst: eine meist linke, tolerante, alternative Großstadt, die genau dieselben Probleme hat wie andere, aber eine freiere, kreativere, bescheidenere und dynamischere Atmosphäre. Das ist eine wahre Erleichterung für einen Bewohner von Amsterdam, das im Vergleich zu Berlin ein kleines Dorf mit Größenwahn ist.

Herien Wensink

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