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Stadtleben: Hungrig auf Berlin

Die Band Slut gilt als Hoffnung der deutschen Indie-Musikszene Aus Bayern entkommen, arbeiten die Jungs hier an ihrer CD. Und klingen neu

Dieser Zettel fällt sofort auf. Vermutlich deshalb, weil er die Neugierde auf die Frage nach den gängigen Rock’n’Roll-Klischees befriedigt. Es handelt sich um die Getränkeliste von Slut. Die so brav wirkenden Ingolstädter, diese perfekten Schwiegersöhne, die immer so fröhlich lächeln, haben Bionade getrunken, okay, und Wasser, auch okay, und vor allem: Bier. Es passt kein Strich mehr in die Kästchen, die für die Abrechnung vorgesehen sind. Die Liste liegt im Aufenthaltsbereich des Tritonusstudios in Kreuzberg, nahe dem Schlesischen Tor. Hier haben erst vor ein paar Wochen die Ärzte ihr Album eingespielt und abgemischt.

Und jetzt sitzen hier die fünf Jungs, die als deutsche Indie-Hoffnung gelten und mit ihrem Sound die Szene verändert haben. Sänger Chris verrät gleich zu Beginn: „Wir sind etwas müde.“ Seit sechs Wochen sind sie nun schon mit Unterbrechungen im Studio. Erst im legendären Wong-Studio, das sich ebenfalls in Kreuzberg befindet. Die Nächte sind lang. „Erst haben wir noch jeden Abend in der Ankerklause oder in einer anderen Kneipe das Kreuzberger Unterholz durchforstet. Aber jetzt proben wir nachts bis vier und mischen tagsüber.“ So müde sehen sie gar nicht aus. Sie freuen sich über ihre neuen Songs wie kleine Kinder über Weihnachtsgeschenke. Und sie erzählen aufgeregt vom Cover ihrer nächsten Single „Wednesday“, für das sie ein Bild des Berliner Künstlers Sigurd Wendland verwenden können. „Wir kommen gerade aus seinem Atelier und sind total begeistert von seiner Arbeit.“ Die Jungs sind anspruchsvoll, machen viel selbst und scheinen sich nicht vollends auf die Maschinerie der Musikindustrie verlassen zu wollen. Sänger Chris ist Architekt mit eigenem Büro. Keyboarder René ist selbstständiger Grafiker. Als die Jungs aus dem Atelier kommen, baut er sofort die Fotografie des Bildes für das Cover um. An seinem iBook. Die anderen sitzen auch vor ihren Laptops. Es sieht mehr nach Werbeagentur als nach Rock’n’Roll aus. Und irgendwie auch nicht nach altem Kreuzberg. In Ingolstadt seien sie mit ihren Macs „Exoten“. Hier nicht. Nicht am Schlesischen Tor, nicht in Berlin. Was schätzen sie an der Stadt? Die Antworten kommen schnell: die Bars, die Bauten, die Größe und die gesunde Armut. „In Ingolstadt haben wir Audi und sind Boomtown. Aber so richtig viel passiert dort nicht. Die Leute sind satt.“ Wenn sie über Berlin reden, ist ihr spitzbübisches Lächeln zu sehen. Das haben alle fünf. Sie haben sich aber nicht nur wegen ihrer Liebe zu Berlin für die Aufnahmen hier entschieden. „Wir haben in Hamburg aufgenommen und in Weilheim.“ Mit beiden hätten sie gute Erfahrungen gemacht, aber Berlin sei ein Bruch, etwas Neues und ein völlig anderer Einfluss. Vielleicht auch ein Abschluss mit alten Slut-Alben.

Nach der Laptopsession, Kaffees und ein paar Kippen geht es ins Studio 2. Dort tüftelt ihr Produzent Oliver Zülich am riesigen Mischpult an den Songs. „Wir sind so glücklich wie noch nie“, sagt Chris, die anderen nicken. Sie haben sich verändert, sind weniger schroff, weniger die Indie-Bretter, sondern betreten jetzt das Leichtsinnige – aber nicht ohne die gewohnte Slut-Melancholie, die man von ihren älteren, noch härteren Scheiben kennt. Die Single erscheint am 1. Dezember. Es ist eines der langsamsten Stücke, feinsinnig, mit langem Outro. Slut sind definitiv verspielter geworden. Und das macht Spaß, genauso wie den Jungs, die lächeln, wenn ihr Sound durch die Boxen das Studio beschallt. Aber nicht weil sie selbstverliebt sind, sondern weil sie das Ergebnis vieler harter Wochen schätzen. Slut sind schon lange im Geschäft. 1994 gründeten sie sich. Als Schülerband. Aus dem kleinen Fankreis wurde schnell ein bundesweiter. Es folgten fünf Alben. Im Moment arbeiten sie an ihrem sechsten. Sie steuerten Filmmusik zu „Crazy“ bei, dem Kinohit mit Robert Stadlober, und erlangten große Aufmerksamkeit mit ihrem Auftritt bei Stefan Raabs „Bundesvision Song Contest“ vor zwei Jahren und ihrer Single „Why Pourquoi“.

Gab es in den letzten Wochen einen Lagerkoller? „Nein“, sagt Chris wieder lächelnd, so als ob er nicht ganz die Wahrheit sagt. Aber vielleicht kommt der auch erst: bis Ende des Jahres stehen Pressetermine an, im Januar geht es mit den Promo-Gigs los, im Februar erscheint die Platte, dann folgt eine Tournee, die Festivalsaison und im Herbst die zweite Tour. Worauf freuen sie sich, wenn dann auch mal Pause ist? „Aufs Feiern! Wir wissen, wie das geschrieben wird. Nämlich groß“, sagt Chris und der Blick wandert unfreiwillig auf die Getränkeliste.

Ric Graf

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