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Stadtleben: Im Innern eines Diamanten

Kreuzberger Stimmen: Souldiva Jocelyn B. Smith und ihr bunter Laienchor

„So eine Lehrerin hatte ich noch nie“, schwärmt Rolf, 62, bunt tätowiert und Rentner. Eine tolle Erscheinung sei sie, voller Gefühl und Kraft und „wie ein Engel zu uns hereingeschwebt“. Die so gepriesene Jazz- und Soulsängerin Jocelyn B. Smith lässt ihren hingebungsvollsten Gesangsschüler und seine knapp 20 Mitstreiter allerdings gerade warten. Schon vor 20 Minuten sollte die Chorprobe losgehen. Die im Sozial- und Kulturzentrum Gitschiner 15 in Kreuzberg versammelte Truppe besteht aber eh nicht aus Leuten, die panisch auf die Uhr gucken. Armen- und Obdachlosenchor wollen sie nicht genannt werden, sondern lieber Menschen, die mit wenig Geld auskommen müssen. Das gilt für alle 80 Besucher, die jeden Tag in das von der Heilig-Kreuz-Kirchengemeinde getragene, spendenfinanzierte Haus kommen. Zum Malen, Duschen, Essen oder eben zum Musizieren.

Und dann geht ein Raunen durch den Musikraum und unter Applaus, Küsschen, Umarmungen und „Josey, Josey!“-Rufen rauscht Jocelyn B. Smith herein. Rolf hat direkt am Klavier Posten bezogen und weicht die nächsten beiden Stunden keinen Millimeter von der Stelle. Den Laienchor hat Smith im letzten September nach einem Workshop in der Heilig-Kreuz-Kirche gegründet. Warum? „Er soll ein Statement sein: Durch Musik werden vergessene Menschen mutig und bekommen Energie, wieder was zu bewegen“, sagt sie. Also ein soziales Projekt? „Nein“, meint Smith, „ein spirituelles“. Die seelische Not sei groß in Deutschland. Armut nehme zu, lachende Menschen seien auf der Straße kaum zu sehen. „Wir sollten alle mehr singen – das heilt.“

So was hielt man mal für die plattenverkaufsfördernde Propaganda von Gotthilf Fischer, aber inzwischen haben selbst Mediziner ausgemessen, dass Singen gesund ist. Sonst reichte auch ein Blick in die animierten Mienen der probenden „Different Voices of Berlin“ als Bestätigung. Dass die ehrenamtliche Chorleiterin ein Star und umwerfend schön ist, verstärkt den heilenden Effekt nur noch. Brav stehen alle im Kreis, stellen sich „die Flamme im Innern eines großen Diamanten vor“ und singen. Erst schräg und gequetscht, dann immer klarer und voluminöser. „Strahlen, strahlen, mehr strahlen“, ruft Smith am Piano. Und dann folgt ein strenges: „Was ist los mit euch? Ihr schläft alle!“ Da korrigiert der Gospelchor unter Lachen einstimmig ihr amerikanisches Deutsch. „Schlaft heißt das!“

Schlafen gilt nicht bei Jocelyn B. Smith. Die Afroamerikanerin lebt seit 1984 in der Stadt und hat inzwischen ihr elftes Album „Expressionzz“ herausgebracht. Als Sängerin hat sie mehrere Jazzpreise abgeräumt, in Soul und Musical reüssiert, in der Klassik mit den Berliner Philharmonikern gearbeitet und bei vielen offiziellen Anlässen wie der Berliner Trauerfeier zum 11. September gesungen. Warum sie der Stadt die Treue hält? „Irgendwie bin ich verbunden.“ Als Kind habe sie in New York schon Bilder der Kriegsruinen gesehen. Und auch nach 23 Jahren sei sie hier noch nicht fertig. „Berlin ist Teil meines Wegs, so wie dieser Chor, den ich weiterführen will.“

Wie bestellt, bietet der gerade einen ungemein berlinischen Anblick. Gepflegte Damen von der Kirchengemeinde neben wild tätowierten Typen, glatte junge Gesichter neben zerfurchten Mienen: Jocelyn B. Smith haut in die Tasten, feuert die Leute an und am offenen Fenster fährt die orangegelbe Hochbahn vorbei.

Andrea, 39, aus Zehlendorf und seit den „90ern Fan von Jocelyn“ hat vorher noch nie gesungen. „Ich bleib’ auf jeden Fall dabei“, sagt sie. Es sei schön, sich selbst durch’s Singen neu zu entdecken. Zum Konzert auf dem evangelischen Kirchentag im Juni in Köln will sie genauso mitfahren wie Eckhard, 63, aus dem Wedding. „Klar, da bleib’ ich dann gleich noch“, sagt der selbst ernannte Vagabund, der von 550 Euro Rente lebt. Zur Probe ist er mit Schlafsack gekommen. Wieso? „Hab’ mein möbliertes Zimmer gekündigt.“ Und heute Nacht? „Mal sehen, vielleicht Notunterkunft.“ Das Singen sei lustig und entspannend, meint er. Seinem kurzen Solo hört man noch viel Lampenfieber an. „Keine Angst, keine Angst“, ruft Jocelyn B. Smith und prompt klingt der ganze Chor sicherer. „Josey führt uns sanft wie ein Hirte seine Schafe“, sagt Rolf nach der Probe und lässt nur zögernd den Blick von ihr. Gunda Bartels

Jocelyn B. Smith und „Different Voices of Berlin“ singen heute im Tipi. Karten unter Tel. (0180) 327 93 58. Und am 9. Juni auf dem Kirchentag in Köln.

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