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Karneval der Kulturen: Eine Stadt nur zum Tanzen

Der Karneval der Kulturen ist eine Parade für alle. Die Trennlinie zwischen Völkerfest und Volksfest ist dabei zwangsläufig dünn, wie Lucas Vogelsang zu berichten weiß, der sich in das Getümmel gestürzt hat.

Die Andersartigkeit dieses Tages ist um das Handgelenk eines dreijährigen Jungen geknotet, sie schwebt zwischen den Köpfen seiner Eltern. Ein grüner Luftballon. Darauf in schwarzer Schrift: "Die Straßen nur zum Tanzen." Es klingt wie ein Befehl, ein Gesetz für einen Tag, an dem die Gesetzmäßigkeiten in bunten Farben verlaufen. Die Straßen zwischen Hermannplatz und Mehringdamm sind heute Tanzfläche, weil der Karneval den Takt der Stadt bestimmt.

Hinter der Karstadtfiliale am Hermannplatz beginnt die Ausweitung der Tanzzone. Es ist kurz vor halb eins. Die Sonne hängt als gleißendes Fünfmarkstück an einem makellosen Himmel. Sie spiegelt sich in den Kronen der Sambaköniginnen, die, ganz oben auf dem ersten Wagen, den Rhythmus vorgeben, das Einsingen der Straße lenken. Zu ihren Füßen beben die Trommeln. Ein Dröhnen, militärisch, an einem anderen Ort bedrohlich, hier aber, von einem Zuckerhutlächeln überzogen, eingebettet in die Stimmen der beiden Frauen, nur die ekstatische Basslinie für das Kostümfest der Kulturen. Köpfe in weißem Stoff wogen im Gleichschritt, eine Armee der Leichtigkeit, entfachen eine Vibration, die in die Körper an den Rändern fährt. Jeder Zuschauer ein Resonanzkörper. Als Teil der Masse, aber doch ganz bei sich. Der archaische Wirbel der Trommeln katalysiert eine Einkehr. Ein älterer Herr, Schiebermütze, Fliederhemd, zuckt zu den Schlägen, zum kollektiven Klatschen, die Augen fest geschlossen, die Seele aber, das ist zu spüren, weit geöffnet.

Die Straßen nur zum Tanzen. Die Zuschauer, deren Augen sich an den Tänzern, Menschen wie Regenbogen, weiden, feiern den Karneval als Kurztrip in eine Gegenwelt, sie haben den grauen Anzug des Alltags eingetauscht gegen eine bunte Kostümierung, exotisches Make-Up aufgetragen.

Dabei funktioniert der Karneval vor allem als Wiederaufführung des Immergleichen. Wie in jedem Jahr löst sich der Zug um 12 Uhr 30 aus seinem tobenden Stillstand, schwappt, mit dem Generalstab dirigiert, pünktlich durch Neukölln. Die Samba-Tänzer, die Trommler von "Afoxe Loni" auch diesmal als Kopf der Karawane. Ein streng durchchoreographierter Spielmannszug, der auf einem Soundteppich gleitet, in den wie selbstverständlich afrikanische Tradition, E-Gitarrenriffs und elektronische Beats verwoben werden. Dazu mexikanische Rasseln wie das Zischen einer gigantischen Klapperschlange.

Es ist dies das Welttheater als ritualisierter Reigen, aber vor allem auch ein Fest des Konsens. Der Karneval der Kulturen ist, auch diesmal, auch immer, eine Parade für alle. Mit Hulaketten geschmückte Kinderwagen neben Selbstdarstellern in Uniformen, arabische Männer in Piratentrachten neben Rentnerpärchen in Strohhut, den Frühschoppen noch in der Hand. Wenn der Goa-Junkie mit dem Hauptmann von Köpenick zu Musik tanzt, die er exklusiv zu haben scheint, die nur in seinem Kopf spielt. Der Wagen des Kiezläuferprojektes umringt von lateinamerikanischer Folklore. Es ist ein Blick auf Berlin durch das Brennglas der Verdichtung. Alles nah beieinander, als Panoptikum des Multikulturellen, das in diesem Moment greifbar, aber vor allem hörbar wird. Berlin eben, eine Stadt nur zum Tanzen.

Dass der Karneval dabei an seinen Rändern eine Kirmes ist, eine Fressmeile, auf der Konsum in fettigen Schalen und Plastikbechern serviert wird, eine Absolution zum Exzess auf offener Straße, auch das ist Teil dieses Nachmittags. Man kann es schmecken, riechen. Öl in großen Pfannen, Cola-Dosen in Bergen aus Eiswürfeln. Marktschreier-Atmosphäre. Aber auch das gehört dazu. Weil die Trennlinie zwischen Völkerfest und Volksfest zwangsläufig dünn ist. Sie gehen, schunkelnd, Hand in Hand.

Als die ersten Wagen jedoch die Yorckstraße erreichen, die Luft längst schwer von Alkohol und Schweiß, die erste Schminke verlaufen, leuchtet die eigentliche Idee des Karnevals noch einmal gut sichtbar auf einem Banner: "Ohne Egoismen könnten wir in jedem Volk Wurzeln schlagen." Dahinter hebt die Musik von neuem an. Ist nun überall. Der Soundtrack dieser Inszenierung einer kleinen urbanen Utopie, in der alle mit allen tanzen, weil ihnen, heute zumindest, die Straße gehört.

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