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Castingallee

© Mike Wolff

Kastanienallee: Berliner Pflasterschein

Kastanienallee, Prenzlauer Berg: Castingallee, Latte-Macchiato-Strich, die vielleicht hippste Meile Deutschlands. Jetzt soll sie besser befahrbar werden, breiter. Aber ist sie für Autos überhaupt gedacht? Über eine Liebe zum Bürgersteig und kinetische Modelle.

Aschgrau steht es da in seinem DDR-belassenen Betonputz, ein schmutziger Fleck zwischen den hellbeige und vorsichtig rosa leuchtenden Nachbarn – eins der letzten unsanierten Häuser in der Kastanienallee, Berlin, Prenzlauer Berg. „Die Einschusslöcher sind bald alle wegrenoviert,/ Sieht ja schon fast aus wie in Eimsbüttel“, weiß ein Kastanienallee-Gedicht von Olli B.. Es gibt noch viel mehr Kastanienallee-Gedichte. Denn die Kastanienallee ist nicht irgendeine Straße.

Szenesachverständige („Vergesst die Oranienburger!“) nennen sie auch „die hippste Meile Deutschlands“. Schließlich wohnen hier selbst Tom Tykwer oder Doktor Motte. Kastanienallee-Verächter sagen trotzdem Latte-Macchiato-Strich. „Castingallee“ sagt, wer schon mal was von ihr gehört hat, also fast jeder.

Passanten aller drei Gruppen blicken jetzt manchmal mit neuer Nachdenklichkeit zum letzten oder vorletzten Schmutzfleck der Allee auf. „Kapitalismus normiert, zerstört, tötet …“, lesen sie neonbeleuchtet auf seiner Fassade. – „Unsinn“, sagt Sebastian Mücke, „Sozialismus normiert, zerstört, tötet genauso. Hätten die gleich dazuschreiben müssen.“ Sind nicht alle Wahrheiten, die sich in simple Aussagesätze fassen lassen, Halbwahrheiten?

"Fünf Leute, eine Bürgerinitiative!"

Mücke wohnt ein paar Häuser weiter und wenn ihn etwas ärgert, dann sind das die Denker der halben Wege, die falschen Konsequenzmacher, egal ob sie aus einst besetzten Häusern oder Amtsstuben schauen. Im Augenblick stören ihn letztere allerdings noch mehr. Jens-Holger Kirchner zum Beispiel.

Der grüne Stadtrat erregte Mitte des vergangenen Jahres großen Zorn, als er die Anwohner des grünen Kernwahlgebiets Kastanienallee zu einer Informationsverstaltung einlud. Er wollte ihnen erklären, was gleich mit ihrer Straße passieren würde. Man sah ihn an wie einen, der kommt zu normieren, zu zerstören und zu töten. Mückes dunkle Augenbrauen bilden noch immer Halbkreise des Unglaubens: Jemand, der gar nicht hier wohnt, ein Ortsfremder also, will ihm erklären, was mit seiner Straße geschieht? Woanders mag das leider noch so sein, aber doch nicht im Prenzlauer Berg!

Kirchner dagegen sagt: „Haben die gleich eine Bürgerinitiative gegründet. Und wohnen noch nicht mal da!“

„Mücke schon!“

„Ja, der. Aber wissen Sie, wie viele die sind? Fünf! Fünf Leute, eine Bürgerinitiative!“

Der Prenzlauer Berg unterscheidet sich von anderen Stadtteilen Berlins vor allem dadurch, dass hier jede Straße ihre eigene Bürgerinitiative besitzt. Tendenziell. Von der Schönhauser aus gesehen, kreuzt die Kastanienallee zuerst die Oderberger Straße. Dort wollte das Bezirksamt von den Bewohnern gepflanzte Blumenbeete beseitigen und Bäume fällen. Aber nicht mit den Oderbergern! Danach kreuzt die Kastanienallee die Schwedter Straße. Dort soll das Nobelbauprojekt Marthashof entstehen. Aber doch nicht mit den Schwedtern!

Kreative Straße - Kreativer Verkehr

Und nun die Kastanienallee. Eine Straße von internationalem Ruf, betont Sebastian Mücke. Wer hat sie dazu gemacht? Menschen wie er. Mücke hat drei Läden hier, einen Kunstladen für Waren des esoterischen Bedarfs, einen Hutladen und eine exotische „Kaufhalle“. Auf der Kastanienallee gibt es außer einer Drogerie und einem McPaper kein normales Geschäft mehr. Und wer setzt den Ruf dieser Straße aufs Spiel? Menschen wie Jens-Holger Kirchner.

Auf der möglicherweise hipsten Meile Deutschlands staut sich der Verkehr. Das liegt vor allem daran, dass gerade die zwei Paar Straßenbahngleise auf die Straße passen. Wer mitten auf der Allee steht, staunt immer wieder, wie schmal sie ist. Wunderbar schmal, findet Mücke. Unverantwortlich schmal, denkt Kirchner. Für Autos ist hier streng genommen gar kein Platz. Und wer auf den Bürgersteigen nicht nach oben, sondern nur nach unten guckt, glaubt, er sei schon wieder in der DDR. Fahrradfahrer hingegen bewegen sich unter Einsatz ihres Lebens auf einer schmalen Spur zwischen den Straßenbahngleisen. Die Bürgerinitiative hat gesagt, viel besser als es ist, kann es gar nicht mehr werden. Das ist nicht Zynismus. Das ist Einsicht in das Wesen des Verkehrs als Kunstform. Kreative Straße. Kreativer Verkehr.

Die Radspur zwischen den Schienen ist eine große Errungenschaft, denn bis eben hatten die Radfahrer überhaupt keine. Doch der weiße Pfeil, Zeichen ihres Triumphs, verblasst schon wieder. Kirchner, auch verantwortlich für die Abteilung öffentliche Ordnung, hat nicht viel Sinn für Verkehr als Kunst. Für Kunst als Verkehr. Und wenn die Straße zu schmal ist, verbreitern wir sie eben, hat er gesagt: einfach die parkenden Autos auf den Bürgersteig „umsetzen“. Der wird dadurch ein bißchen schmaler, aber wen stört das?

Mich, sagt Mücke. Und alle, die hier wohnen, arbeiten, Kaffee trinken und einkaufen oder das zu tun gedenken.

Frühstück bis 17 Uhr

Das Problem ist: Wenn das Bezirksamt und Sebastian Mücke von der Kastanienallee sprechen, reden sie von zwei grundverschiedenen Dingen. Mücke versteht unter der Kastanienallee vor allem die Bürgersteige, über die man in die bonbonfarbenen Häuser, auf den nächsten Kaffeehausstuhl oder in die nächste Boutique gelangt. Die Cafés heißen „103“, „An einem Sonntag im August“, die Friseure heißen „Notaufnahme“, die Boutiquen „Eisdieler“, „God bless you“, und man bekommt darin Kettensägen für Kinder.

Es geht um die Straße als Lebensraum. Nirgends sonst kann man sich – übriggeblieben von der letzten Party der letzten Nacht – so gut in den neuen Tag hineintrinken wie auf der Kastanienallee. Frühstück bis 17 Uhr. Um dann mit ein paar Leuten, die man eben erst kennengelernt hat, noch für denselben Abend einen Flug nach Bangkok zu buchen. So weiß es die Legende. Die eigentliche Straße ist für die Anhänger dieser Daseinsform, die Vertreter der Lebensraumtheorie also, lediglich das Hindernis, was zwischen beiden rettenden Ufern liegt. Es repräsentiert gewissermaßen das Risiko des Lebens selbst. Das ist die eher statische Denkweise.

"Irgendwo muss man ja anfangen"

Für Jens-Holger Kirchner repräsentiert eine Straße dagegen ein kinetisches Modell. „Es geht um die Erhöhung des Mobilitätskomforts“, formuliert Kirchner, und auch vor der Kastanienallee mache das 21. Jahrhundert nicht halt. Und Kirchner spricht das Wort aus, das Menschen wie Mücke regelmäßig erblassen lässt: Hauptverkehrsstraße. Auf einer Straße herrscht Verkehr, auf einer Hauptverkehrsstraße herrscht Hauptverkehr. Verkehr muss fließen, sonst ist es keiner. Einschließlich des Verkehrs auf Bürgersteigen. „Gleich machen wir eine erste öffentliche Berollung“, kündigt der Stadtrat an.

Eine was?

Eine Berollung, wiederholt Kirchner mit Betonung auf jeder Silbe.

Rollstuhlfahrer begehen eine Straße nun mal nicht. Sie berollen sie. Und dass Kaffeehaus-Tische Rollstuhlfahrern im Weg stehen, werde er, Kirchner, nicht hinnehmen.

Aber das kriegt man doch bei einer Berollung im Winter gar nicht raus?

Der grüne Stadtrat macht eine kurze Pause bevor er etwas sagt, das wie Irgendwann-muss-man-doch-anfangen klingt. Ganz klar, dieser Mann vertritt die Idee der Straße als Transitraum. „Für die ist das hier die Rallye Paris-Dakar“, kommentiert Mücke. Selbst Tykwers Lola hätte hier natürlich Schwierigkeiten zu rennen. Anwohner Tykwer, auch sonst eigentlich eher der kinetische Typ, Hochbeschleuniger, ist in diesem Fall auf Mückes Seite.

Die älteste Straße in Prenzlauer Berg

Aber wer hat recht?

Legendär – Castingallee – ist die Straße vor allem als Laufsteg. Das liegt vor allem am Café „103“, Ecke Zionskirchstraße, wo man nur an der Bar sitzen braucht, um entdeckt zu werden. Weshalb die Kastanienallee die größte Dichte arbeitsloser Schauspieler Deutschlands aufweisen soll. Die wohnen da also nicht, die gehen nur da lang. Der Komfort des Laufstegs ist ein Spezialfall des Mobilitätskomforts. Er meint nicht den schnellen Gang des Kirchnerschen Hauptverkehrs, sondern den sehr speziellen Gang. Und dessen Kunst erprobt sich erst an Widerständen, etwa auf dem alten Ostpflaster, weshalb viele es unbedingt erhaltenswert finden.

Aber betrachten wir das alles einmal historisch: Am Anfang, also bis 1826, war hier gar nichts, zumindest mit den Augen des Großstädters betrachtet. Nichts als ein paar Äcker. Durch diese Äcker ließ ihr Besitzer Wilhelm Griebenow im Jahre 1826 eine Schneise schlagen, quer durch fast bis nach Heinersdorf. Eindeutige Transitidee. Die Kastanienallee ist die älteste Straße des Prenzlauer Bergs. Auf beiden Seiten pflanzte Griebenow Rosskastanienbäume. Und weil die Fuhrleute irgendwo auf dem weiten Weg mal eine Pause machen mussten, entstand der Prater, der Biergarten der Fuhrleute.

Der Prater ist immer noch da, als Biergarten und Volksbühnen-Nebentheater. Sonst gibt es eigentlich nicht viel mehr Vergangenheit auf der Kastanienallee, abgesehen von „Fahrrad Linke“ gleich nebenan. „Fahrrad Linke“ existiert schon seit 1912. „Die machen wirklich noch Mittagspause“, sagt Mücke, der nicht weiß, dass „Fahrrad Linke“ zu DDR-Zeiten im Februar sogar ganz geschlossen hatte. Im Februar fuhr man nicht Fahrrad.

"Was soll man hier essen?"

Skeptiker fassen die Geschäftsidee von „Fahrrad Linke“ in dem Satz zusammen: „Kein Service seit 97 Jahren“. Andererseits bietet „Fahrrad Linke“ sogar ein eigenes Fahrrad an, das „Linke-Rennrad Campagnolo Mirage“, kürzlich von 899 Euro auf 699 Euro reduziert. Auch versetzt manchen der Umstand in Euphorie, dass man „Fahrrad Linke“ mit einer verrosteten Schraube betreten kann und der Chef selbst geht in sein großes Lager nachschauen, ob er davon noch eine hat. Das macht Volker Esch öfter, schon weil die Radfahrer in der Kastanienallee immer über die Straßenbahnschienen müssen. Das schafft nicht jeder. Das „Campagnolo Mirage“ ist nichts für die Kastanienallee.

Jetzt ist Eschs Frau Liane im Laden. Sie ist schon in dieser Straße zur Schule gegangen, genau wie ihr Mann Volker. Beide haben noch immer nicht ganz verstanden, was mit ihrer Straße in den letzten Jahren geschehen ist. Kultur? Wo denn?, fragt Liane Esch. Es sei aber noch viel schlimmer: „Was soll man hier essen?“ Früher war gleich nebenan der „Goldbroiler“-Imbiss. Sie selbst hätten es gut, sie wärmen sich hinten was auf, aber was sollen ihre Kunden machen, wenn sie mal warten müssen, reparaturbedingt? „Ich schicke sie immer rüber zu Konnopkes Imbiss“, sagt Liane Esch.

Konnopkes Imbiss, da hat Liane Esch recht, zählt seit 1930 zu den unverlierbaren Kulturgütern an der Kreuzung Schönhauser – Kastanienallee, nicht nur weil Manfred Krug hier schon Currywurst gegessen haben soll. Aber die schmeckt nicht mehr wie früher, sagt Liane Esch warnend.

Bloß durch und weg

Der Westen hat nie gelernt, so gute Currysoßen zu machen wie die DDR. Aber vor Konnopkes Imbiss merkt das keiner. Fast alle blicken auf das linke Eckhaus der Kastanienallee. Das ist ein sehr wichtiges Haus, denn in ihm wurde das deutsche Kino erfunden. Zuerst, am 20. August 1892, drehte Max Skladanowsky seinen Bruder Emil Skladanowsky beim Frühsport. Vier Jahre später stiegen beide auf Dach und sahen – die Kreuzung. Was also erblicken wir auf den ersten deutschen Filmaufnahmen? Den Verkehr. Den Hauptverkehr in der Kastanienallee, Ecke Schönhauser.

Liane Esch kennt ihn seit vielen Jahrzehnten. Eine eigene Randspur für Radfahrer findet sie gut. Die Radfahrer sind da nicht so sicher: Jetzt fahre man immerhin in der Mitte. Und soll wieder an den Rand gedrängt werden? Um dort womöglich unter das nächste ein- oder ausparkende Auto zu kommen. Kirchner will die Zahl der Parkplätze drastisch reduzieren. Autofahrer können so rücksichtslos sein, erst recht die ohne Parkplatz.

Es ist noch nicht lange her, da lasen sich die neuen Berliner Literaten am anderen Ende der Kastanienallee, im Tagungsort der „Liga für Kampf und Freizeit“, Geschichten vor, die trugen Titel wie „Wie ich mal in der Kastanienallee in irgendwas reingetreten bin“. Das war präziser postsozialistischer Realismus, denn mehr konnte man hier keinesfalls erleben. Damals verkörperte die Kastanienallee noch gleichsam die Transitidee: Bloß durch und weg!

Wie aber beginnt eine tote Straße zu leben?

Am Anfang ist meist eine Kneipe. In der Kastanienallee war es das „Schwarzsauer“, das ist gleich neben Sebastian Mückes Hutladen. Im „Schwarzsauer“ trafen sich die ersten und überlegten, was man noch machen könnte.

Der Kapitalismus ist flatterhaft

„Da war einfach nichts.“ Sebastian Mücke aus Dillenburg in Hessen kennt das auch noch. Mücke ist gewissermaßen ein Ureinwohner des neuen Prenzlauer Bergs. Gleich im Frühjahr 1990 kam er her. Er kam direkt aus New York. Dort hat er Stadtteilerneuerungsarbeit gemacht, und zwar am Times Square. Die New Yorker überlegten sich 1988, wie ihr Hauptplatz künftig aussehen soll und fanden dabei selbst die Meinung eines Dillenburgers sehr interessant. Fast jeden Abend war Anwohnerversammlung. „Da wäre niemand auf die Idee gekommen, den fertigen Plan zu repräsentieren“, sagt Mücke. Das unterscheidet den Times Square von der Kastanienallee.

Jens-Holger Kirchner sagt, die Kastanienallee sei stark, sie werde auch den Umbau überstehen. Vielleicht dachte er an das letzte Mal, als die BVG das Gleisbett aufgerissen hat. Da versammelten sich Menschen aus aller Welt in der Straßenbahn-Baugrube vorm Prater, spielten Gitarre und Trommel, tranken das Bier aus dem Spätverkauf und dachten: „Das gibt’s nur in Berlin!“ Das war im Sommer 2006. In der Kastanienallee haben die Dinge oft eine ganz andere Bedeutung, das Wort Stoßzeit zum Beispiel. In der Kastanienallee sind Hauptstoßzeiten Wochenende und Sonnenwetter. In anderen Hauptverkehrsstraßen ist das eher nicht so.

Gerade hat das begonnen, was der Beschleuniger Jens-Holger Kirchner „Beteiligungsverfahren“ nennt. Ein Verfahren, in dem sich jeder „einbringen“ darf, „nachhaltig“. Kommt die Hauptstraße doch? Mücke wird in seinem Hutladen gleich eine neue Hutmacherin einstellen und einen Hutreparaturservice eröffnen. Im übrigen ist er wie fast alle hier für Tempo 30, weil Verkehr als Kunstform bei Tempo 30 ein überschaubares Risiko darstellt. Natürlich auch für ihn selbst, wenn er von seinem Hutladen in seinen Kunstladen genau gegenüber will.

Kapitalismus tötet, normiert, zerstört? Nicht unbedingt. Schräg gegenüber vom vorletzten unsanierten Haus der Kastanienallee steht eins, das soll 1990 für 150.000 DM verkauft worden sein. Der Eigentümer, weiß man hier, hat nie etwas daran gemacht und es vor ein paar Jahren wieder verkauft. Für 1,5 Millionen Euro. Für Menschen mit Geld ist der Kapitalismus prima. Er ist nur etwas flatterhaft. Bestimmt hält er längst schon Ausschau nach der nächsten Straße, die so was von tot ist, dass sie nur noch Kult werden kann.

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