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Lange Tafel

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Lange Tafel: Pasta im Bergmannkiez

Die "Lange Tafel" in der Kreuzberger Bergmannstraße ist schon zur Tradition geworden. Spaghetti essen - alle zusammen an einem Tisch - das ist auch, was die 83-jährige Gertrud begeistert.

Zuerst hat sich Gertrud über den Anruf gewundert. "Normalerweise holt mich das DRK immer um 12 Uhr ab, dann gehen wir spazieren oder einkaufen." Am Freitag sollte die 83-Jährige sich beeilen und schon eine Stunde früher fertig sein. "Um mitten auf der Bergmannstraße Spaghetti zu essen", lacht sie. "Das habe ich ja noch nie gehört." Mit der "Langen Tafel" hat sich Isabella Mamatis, die Vorstandsvorsitzende des Lange Tafel e.V., einen Herzenswunsch erfüllt. Die Idee hatte die Halbgriechin während eines Aufenthalts auf der Heimatinsel ihres Vaters, als sie von Fremden angesprochen und zum Pasta-Essen eingeladen wurde. "Alle Generationen saßen da zusammen an einem Tisch, und trotz der Sprachbarrieren haben wir uns gut verstanden", erinnert sich Mamatis.

Und genau das soll die Lange Tafel, die zum zweiten Mal in Kreuzberg stattfand, bewirken: Alle bei Spaghetti mit Tomatensauce an einem großen Tisch zu versammeln, auf dass sie sich etwas erzählen. Deshalb kooperiert der ausschließlich mit der Vorbereitung des alljährlichen kulinarischen Events befasste Verein mit Seniorenheimen, Mobilitätsdiensten und Schulen, um Jung und Alt, Menschen mit unterschiedlichem kulturellen und sozialen Hintergrund miteinander ins Gespräch zu bringen. Gertrud sitzt einigen Schülern des Kreuzberger Leibniz-Gymnasiums gegenüber und erzählt, wie sie damals von Mitte nach Kreuzberg gezogen ist. "Wir wollten nach Treptow ins Haus meiner Großmutter, aber als wir dort ankamen, war es völlig ausgebombt." Zum Schluss kam sie in der Einzimmerwohnung ihres Onkels in der Dieffenbachstraße unter.

Ihre Biographie hat sie auch mitgebracht: Es sind die Aufzeichnungen von Paula aus der 7c nach einem Besuch bei Gertrud. Schüler und Senioren haben sich bereits im vergangenen Schuljahr getroffen, um sich gegenseitig ihre Geschichten zu erzählen. Was die Schüler nach den Gesprächen aufgeschrieben haben, hängt jetzt an einer langen Wäscheleine zwischen Zossener und Nostizstraße. Gertrud ist überrascht über die Dinge, an die sich Paula im Nachhinein erinnert: Dass Gertruds Vater während des Krieges Zigaretten für zehn Mark das Stück verkauft hat, dass sie über die Zeitschrift "Emma" im Fernsehen gehört, sie aber nie gelesen hat und dass sie ihr Brot selbst buk. "Ich erinnere mich lieber daran, wie ich früher auf dem Engelbecken Schlittschuhlaufen gelernt habe", sagt Gertrud.

Andere Schüler fanden besonders die Unterschiede in der Schule interessant. Früher habe man oft  "eine mit dem Rohrstock gekriegt", schreibt Asli aus der 7c auf, ihre Klassenkameradin Maria hat erfahren, dass die Schüler sich 1949 ihre Zeugnisse selbst schreiben mussten, weil es so wenig Papier gab. Mamatis, selbst Regisseurin und Schauspielerin, nennt das große Essen eine "dokumentarische Kiez-Inszenierung", eine Improvisation über die Themen Vorurteile, Anderssein und Sprachlosigkeit zwischen Menschen, die doch so nah beieinander wohnen. "Die Biographien der Akteure sind der Stoff der Aufführung." Mit der Aktion möchte Mamatis das Interesse am Leben der Mitbürger in der Nachbarschaft wecken. Essen und miteinander reden - diese alltäglichen Rituale soll die Institution "Lange Tafel" miteinander verknüpfen. Auch Heidi Knake-Werner, Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales (Die Linke), die die Lange Tafel dieses Jahr eröffnete, ist von der Idee angetan. "Wo Menschen unterschiedlicher Generationen ihre Erfahrungen miteinander austauschen, wird Geschichte wird plastisch und anschaulich."

Ariane Breyer[ddp]

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