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Lebensadern (15): Sonnenallee: Salam Aleikum

Straßen erzählen Geschichten. Stadtgeschichten, Kiezgeschichten, Lebensgeschichten. In unserer Serie folgen wir Berliner Lebensadern. In der Neuköllner Sonnenallee begegnen sich prekäre Milieus.

Die Sonnenallee zieht sich vom Hermannplatz aus fünf Kilometer hinunter nach Treptow. Sie ist die kleine Schwester der Karl-Marx-Straße: nicht hübsch, nicht ordentlich und sittsam, aber hellwach und umtriebig. Sie kann rau und ruppig sein, aber sie hat Herz und vielerlei Schnauze. Wie nirgendwo sonst lässt sich hier das alltägliche Miteinander der prekären Milieus erkunden, von denen Thilo Sarrazin und Kirsten Heisig schreiben, die aber nur wenige kennen.

1880 im sumpfigen Süden Rixdorfs angelegt, war die Sonnenallee immer von Armut und Zuzug geprägt. Noch heute leben die Leute hier dicht gedrängt. Die Häuser sind in schlechtem Zustand. Rolf Groth, der fachliche Leiter des Bauamts von Neukölln, sieht den Norden der Straße als künftiges Sanierungsgebiet. Bis dahin wurstelt man sich so durch.

Sie ist eine Durchgangsstraße, eine Meile des raschen Konsums: Hier bekommt man, was wenig Geld kostet und sich im Vorbeigehen erledigen lässt. Friseure und Nagelstudios sitzen nebeneinander, Wettbüros und Handyläden, Internet-Cafés und Shisha-Bars, verschwiemelte Bordelle und lautstarke Kneipen, allerorten Schnellimbisse mit chinesischer, thailändischer, arabischer, türkischer Küche. Hier treffen sich die Milieus der alteingesessenen Neuköllner, der Türken und Araber, der Serben und Polen, der Albaner und Bulgaren. Afrikaner kommen hinzu: Eben hat der „Success Afro Shop“ eröffnet. Dazu die Studenten, die hier preiswerte Wohnungen finden und am Wochenende ihre Eltern aus Paderborn herumführen. „Kind, ist das nicht gefährlich hier?“ – „Ach, Mama!“ Und nun sind auch noch amerikanische, spanische, italienische Jungtouristen auf der Suche nach dem neuen Szeneviertel rund um die Weserstraße. Was eben noch Ghetto war, gilt heute als angesagt und ist für Soziologen schon wieder von Verbürgerlichung bedroht.

Ganz im Süden, vorbei am riesigen Estrel-Hotel, das wie ein Raumschiff auf einem fremden Planeten hockt, vorbei am aufgegebenen, jetzt denkmalgeschützten Arbeitsamt „Die Sonne“, vorbei an der Highdeck-Siedlung, die einmal Inbegriff für soziales Wohnen war und jetzt marode ist, ganz im Süden also stand einmal die Mauer und war einmal ein Grenzübergang. Die damalige Wechselstube ist jetzt das „Sonnenstübchen“. Am frühen Abend sind alle vier Tische besetzt, man hat die Kehlen gut geölt und singt dem Wirt zu, der heute Geburtstag hat: „Hoch soll er leben, Schnaps soll er geben, drei Mal hoch!“

Am Tresen lehnt ein älterer Mann. Lederjacke, Kaiser-Franz-Joseph-Bart, kräftige Hände. Otto war früher mal Bauarbeiter. Er ist 71 und wohnt schon ewig hier an der Ecke. Bevor die Grenze zugemacht wurde, ist er oft herübergefahren, um im Westen ins Kino zu gehen, 25 Pfennig die Karte, die ersten Filme liefen um halb zehn morgens. Im August 1961 lag plötzlich Stacheldraht auf der Sonnenallee, „und im September haben sie die Ersten erschossen“. Die Jahre tauchen wieder auf, während Otto in sein Glas schaut und erzählt. Das kleine Bier kostete damals 41 Pfennig, das große 61 Pfennig und ein doppelter Schnaps eine Mark zwanzig. „Wir haben auch gelebt“, sagt er mit der trotzigen Melancholie des Berliners. Der Fall der Mauer führte für Detlef Koch zum besten Geschäftsjahr überhaupt. „Die Ostberliner standen hier Schlange rin, Schlange raus, die haben alles gekauft.“ Er handelt in der Sonnenallee 52 seit einem Vierteljahrhundert mit Heftromanen, neu und gebraucht. Für die Frauen Arztromane, „Mami“-Hefte und Baccara-Liebesromane; für die Männer Perry Rhodan, Jerry Cotton, Winchester („Männer – härter als der Tod“).

Sein kleiner Laden ist eines der letzten deutschen Geschäfte in diesem Abschnitt der Sonnenallee: „Ich hab’ sie alle überlebt, ich bin immer noch da!“ Nebenan sind fast ausschließlich arabische Geschäfte, Bäcker, Fleischer, Wettbüros und Spielsalons („Geldwäsche hoch drei!“, versichert Herr Koch), islamische Bestattungen und „Hochzeitskleider La Majesté“. Man nennt diese Meile vom Hermannplatz bis zur Erkstraße auch die arabische Allee, neulich hat ein türkischer Händler ihn gefragt: „Wo sind bloß die Deutschen hin?“ Herr Koch kommt mit den Arabern aus, er grüßt auch mal mit „Salam Aleikum, det bedeutet Juten Tach“. Aber der Müll und die Unordnung, das Stehen mit dem Auto in der zweiten Reihe, das geht ihm gegen den Strich. „Wenn Ramadan vorbei ist, dann ist hier die Hölle los, aber Rambazamba vom Feinsten.“ Alles gut und schön, nur: „Man muss aufpassen, dass es nicht auswuchert!“

Gegenüber das „Blumenhaus Weyer“: eine Institution der Sonnenallee seit fünfzig Jahren. Anfangs haben Weyers mit Obst und Gemüse gehandelt, seit Ende der sechziger Jahre mit Blumen, „da standen die Autos am Samstagmorgen in einer Schlange den Block runter“. Jetzt kommen alte Stammkunden, neuerdings auch Studenten, die ihre Balkone bepflanzen mit Mohnblumen. Rote Geranien, das war früher mal, eine andere Generation. Die Leute sind gestorben oder weggezogen, doch Weyers halten noch aus. Türkische Mädchen kaufen zum Schulbeginn Blumen für ihre Lehrer.

Polizeihauptkommissar Woelk kennt die Sonnenallee seit dreißig Jahren. Ihn schmerzt der Niedergang des traditionellen Arbeiterbezirks, der seiner Meinung nach mit dem Fall der Mauer einsetzte. Jetzt hat er mit Drogenhandel und Beschaffungskriminalität am Hermannplatz zu tun, mit Trinkern und Bettlern. „Da müssen wir durch.“ Er sieht die Perspektive der Sonnenallee eher düster. Am meisten vermisst er die echten Neuköllner.

Dabei gibt es sie noch. „Achtung, Stimmung angesagt!“ steht handgeschrieben an der Kneipe „Zum Tiger“. Hertha-Fahne und Frösche-Schal über der Theke. An der Wand der Neuköllner Stoßseufzer: „Keiner sieht, wenn ich Durst habe, aber alle sehen, wenn ich besoffen bin.“ Am Freitagabend treten hier Hotte und Dieter auf, sie bringen Evergreens von Elvis und den Beatles, aber auch „Sierra Madre“ und „Bolle“. Der Schankraum ist voll, nach dem zweiten Lied ist das Publikum auf Betriebstemperatur und singt geschlossen mit: „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein.“ „Alkohol konserviert“, versichert ein Gast und hebt seinen Schnaps, „heute werden wir nicht älter!“ Auf der Straße ertönt die Hymne der Sonnenallee: Polizeisirenen, die vom Abschnitt 54 abfahren zum Einsatz. Hier drinnen aber singen wir: „Es gibt kein Bier auf Hawaii, drum bleim wa hier.“

Der Autor hat seiner zeitweiligen Wahlheimat Neukölln 2009 den Roman „Hinterhofhelden“ (Eichborn Verlag) gewidmet.

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