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kiran nagakar

© Kai-Uwe Heinrich

Literaturfestival: Ein indischer Blick auf Berlin

So klein ist die Stadt, so still, so niedlich! Jedenfalls in den Augen Kiran Nagarkars Ein Spaziergang mit dem Schriftsteller, der am Sonntagabend im Rahmen des Literaturfestivals auftritt.

Am Morgen zieht er zuerst die Gardinen vor den hohen Fenstern zur Seite und guckt hinaus auf den Platz. Dort schließen die Mitarbeiter gerade ihre Cafés auf, dann kommen die ersten Gäste, setzen sich an die kleinen Tische und falten ihre Zeitungen auf. Er liebt es, den Menschen im Café zuzuschauen. Nur dazusetzen würde er sich nie.

Kiran Nagarkar ist einer der wichtigsten Schriftsteller Indiens. Sein Buch „Gottes kleiner Krieger“ war das Gesprächsthema auf der Frankfurter Buchmesse vor zwei Jahren; dieses Jahr nun ist sein erster Roman „Sieben mal sechs ist dreiundvierzig“ von 1974 in deutscher Übersetzung erschienen. Nagarkar lebt in Mumbai. Und dieses Jahr in Berlin. Seit April wohnt er als Stipendiat des Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Austauschdienstes DAAD in Berlin, in Charlottenburg.

Eine schöne Altbauwohnung mit Dielen, Stuck und Flügeltüren ist sein Berliner Zuhause. Zwei weiße Sofas stehen dort und ein Tisch davor, auf dem zwei Muscheln liegen. Kiran Nagarkar ist ein feingliedriger Mann mit dichtem schwarzen Haar, durch das sich nur an den Schläfen ein paar weiße Strähnen ziehen. Er trägt einen dicken Wollpullover mit einem Hemd darunter, beige Hosen, Laufschuhe und einen Anorak über dem Arm. „Brauche ich einen Schal?“, fragt er und lässt ihn dann doch zu Hause.

Es sollte ein Spaziergang an seine Lieblingsorte werden, doch er hat den Vorschlag umgedreht. Er möchte lieber etwas Neues sehen. Hinaus aus seinem Viertel, das er nun schon zur Genüge kennt, und sei es nur aus dem Fenster.

Hackescher Markt, Nagarkar ist entzückt. Wie klein und niedlich dieser kleine „Market“ sei. Sein Bombay (die Stadt heißt heute wieder nach ihrem ursprünglichen Namen Mumbai, aber er ist bei Bombay geblieben) ist riesig, vermutlich die größte Stadt der Welt. Jeden Tag wächst sie weiter, Stockwerk um Stockwerk, während sich unten die Menschen drängeln. Schmutzig sei sie, so dass man kaum atmen könne, und laut, ein ständig hupendes, dröhnendes Gewirre. Die Spiritualität Indiens finde man auf ihren Straßen ganz sicher nicht. Das möge er an Berlin: die Stille.

Wir kommen an einem Kino vorbei, er schaut auf die Plakate und lässt sie sich übersetzen, kennt er, kennt er nicht, hat er noch nie gehört. Er liebt das Kino. In einem Dönerladen hat ihn der türkische Besitzer sofort gefragt: Sind Sie Inder? „Meine Frau ist ein riesiger Fan von Bollywood!“ Nagarkar schmunzelt, wenn er das erzählt. Mit den Bollywood-Filmen sei es merkwürdig, sagt er, er hasse sie – und sehe sich doch alle an.

Wir biegen in die Sophienstraße ein, nur ein paar Menschen spazieren hier auf den Straßen, die Häuserfassaden sind hell getüncht oder aus leuchtend rotem Backstein. Wie schön das alles renoviert sei! In einem zweiten Leben würde er gerne Architekt werden oder Tänzer oder Musiker. Es gebe so viele Möglichkeiten: „Oh boy!“.

Manchmal wirkt er fast jungenhaft trotz seiner 66 Jahre. Die Art wie er schnell redet, schnell geht, schnell von einem zum anderen Thema springen kann. Eine Art, die man auch in seinen Romanen wiederfindet. Er schreibt rasend, verrückt und witzig. Niemals langatmig. Als sein erster Roman 1974 in Indien erschien, stieß er auf komplettes Unverständnis. Zu avantgardistisch sei seine Sprache, zu zerrissen die Form. Und dann auch noch in einem Sprachenmix aus Hindi, Marathi und Englisch. Was soll das, was will der? Das Theaterstück, das darauf folgte, wurde von Hindu-Fundamentalisten verboten. Danach schrieb er fast zwanzig Jahr lang nichts mehr. Und arbeitete, um sich sein Geld zu verdienen, in einer Werbeagentur.

Der wohl bekannteste indische Schriftsteller Salman Rushdie sagte einmal, indische Literatur, die nicht auf Englisch geschrieben wurde, sei unbedeutend. Das ärgert Nagarkar, aber er erfährt es am eigenen Leibe. Erst wenn man den Markt in England oder USA eroberte habe, zähle man auch in Indien. Sein Roman „Gottes kleiner Krieger“ wurde zwar ein Beststeller in Indien. „Aber, hey, was sind ein paar tausend verkaufte Bücher in einem Land mit über einer Milliarde Einwohnern!“

Ein Spaziergang mit Kiran Nagarkar ist ein Streifzug im wahrsten Sinne des Wortes. Er berührt die Dinge. Den Glitter an der Wand von „Clärchens Ballhaus“, die Zeitschriften im Regal eines Cafés, die Mauer im Hinterhof. Er geht nahe an die Plakate an den Litfaßsäulen heran und tritt weit zurück, wenn ihm eine Fassade gefällt. Aber er bleibt nie lange stehen. Sein Fuß sei leider nicht ganz gesund, sonst ginge er zügiger, entschuldigt er sich. Und zieht weiter. Er sei ein durch und durch urbaner Mensch, niemals könne er auf dem Land leben und wenn, dann nur mit ein paar DVDs im Schrank.

Aber Berlin gefällt ihm. Schade nur, dass er die Sprache nicht spreche. Im November hält er die Poetik-Dozentur an der Universität Tübingen, aber wenn er das jemandem erzählen wolle, verstehe ihn keiner. „Doschenduur“ klingt bei ihm wie eine warme Dusche.

Plötzlich weht Musik von der anderen Straßenseite herüber. In einem Jazzclub sitzt ein junger Mann am Klavier. Nagarkar lauscht. Er möge Musik, die man zufällig höre, die einem so unerwartet von irgendwoher zugeflogen komme.

Es beginnt zu dämmern, dann steht der Mond am Himmel. Wir landen im „Sophieneck“, bei guter deutscher Küche. Er bestellt Huhn mit Sesam und Kartoffeln und bietet alles zum Teilen an.

Eigentlich fehle ihm nicht viel in Berlin, sagt er, ein paar knallige Farben, mehr Kinos mit Filmen in Originalversion, ein paar gute Freunde und eine reiche Witwe vielleicht. Ach ja, und auf den Winter könnte er gern verzichten.

Kiran Nagarkar liest heute (28. 9.) um 19.30 Uhr im Haus der Berliner Festspiele, Schaperstraße 24, Eintritt 4 bis 6 Euro, und am Mittwoch (1. 10.) gemeinsam mit Aiko Onken („Marie und er und ich“) im Kulturhaus Mitte, Auguststraße 21, Eintritt 3 bis 5 Euro.

Johanna Lühr

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