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Mode: ''Kreuzkölln'' wird zum Anziehungspunkt junger Designer

In Kreuzkölln reihen sich Schneidereien, Strickereien und Hutmacher aneinander.

Mit einem Babyfon überprüft Gabriele Prellwitz nachts, ob ihre Strickmaschine auch ordnungsgemäß rattert. Die steht im „anyonion“, ihrem Ladenatelier für Strickdesign in der Bürknerstraße. Im Hinterzimmer der Werkstatt wird die drei Meter lange und zwei Tonnen schwere Maschine am Computer programmiert – so entstehen Handwärmer, Stolas, Schals und Röcke mit einer weichen, leichten Note. Filigrane Schmetterling zieren eine Miniserie von Dreieckstüchern, die viel mehr zu einem schönen Sommertag als zu einem kalten Winter zu passen scheinen. Vor allem die junge, kreative Modeszene zieht es seit einigen Jahren in den Norden Neuköllns und das angrenzende Kreuzberg. Dicht nebeneinander reihen sich Schneidereien, Strickereien und Hutmacher. Im sogenannten „Kreuzkölln“, dem Gebiet zwischen Kottbusser Tor und Hermannplatz, Landwehrkanal und Urbanstraße, ist sozusagen ein richtiges Fashionviertel entstanden.

Die aus Bielefeld stammende Designerin sagt, sie sei nach Berlin gekommen, um hier den Freiraum zu haben, zu experimentieren und zu improvisieren. Und anders als in Prenzlauer Berg wohnen in Neukölln „nicht nur die Hippen und Schönen. Hier muss nichts perfekt sein.“ Der Vorteil einer Werkstatt mit angeschlossenem Verkauf liegt für sie auch darin, dass man den Kunden direkt zeigen kann, was und wie man es macht. Und sie spart Mietkosten. Dass sich in dieser Gegend einfallsreiche Existenzgründer ansiedeln, geht auch auf jahrelanges Engagement des Bezirks Neukölln zurück. Projekte der Zwischennutzungsagentur haben die Entwicklung des Quartiers vorangetrieben. Denn leer stehende Läden beeinträchtigten auch die Attraktivität der bereits bestehenden Geschäfte. Nicht zuletzt haben sich die hiesigen Modekünstler zum Neuköllner Fashion-Netzwerk zusammengeschlossen, unter anderem als Einkaufs- und Produktionsgemeinschaft. Rund fünfzig Unternehmer sind mittlerweile vernetzt, organisiert durch den Neuköllner Verein für Wirtschaft und Arbeit. Hinzu kommt, dass der Bezirk im vergangenen Oktober den Neuköllner Gründerpreis verliehen hat, unter den acht Finalisten waren die Strickdesignerin Prellwitz, die Dessous-Designerin Jutta Teschner und die junge Designerin Jana Reiche.

„Is mir egal, ich lass das jetzt so!“ beschriftet Reiche die T-Shirts ihres Labels „JR Sewing“. Der Name ist eine Anspielung auf J. R. Ewing aus „Dallas“, der Kultserie der Achtziger. Ihre bedruckten T-Shirts verkaufen sich gut, im Moment gehören sie zu den Bestsellern auf „DaWanda“, einer Internetseite für Selbstgemachtes.

Als immer mehr ihrer Freunde wegen erhöhter Mieten von Kreuzberg nach Neukölln zogen, eröffnete auch Jana Reiche vor zwei Jahren ihren Laden in der Hobrechtstraße. „Hier ist noch nichts etabliert, alle fangen neu an“, sagt die Berlinerin. Beim Nähen sitzt sie auf einem großen Gymnastikball. „Unsere Generation beginnt, andere Vorstellungen der ,Life-and-Work-Balance‘ zu haben“, lautet ihre Philosophie. Anstatt sich morgens zur Arbeit zu quälen, möchten heutige Mittzwanziger laut Reiche lieber eigene, spannende Ideen umsetzen. Außerdem gebe es in Berlin keine Jobs für Designer, und in eine andere Stadt ziehen will sie nicht. Am 10. März soll ihre Boutique neu eröffnen. Dann werden dort auch Accessoires zu erstehen sein.

Miri Kämpfer war, wie viele der Designerinnen, der industriellen Massenanfertigung riesiger Modeketten wie H&M überdrüssig. Sie wollte ihre Vorstellungen von besonders weiblicher Mode im Rockabilly-Stil umsetzen und das zunächst nur für sich selbst. Also brachte sie sich vor ungefähr fünf Jahren das Schneidern bei. Als die gelernte Industriedesignerin dann einige Stücke, die sie nicht so geglückt fand, im Internet verkaufte, bekam sie Lust auf einen eigenen Laden. Vor knapp einem Jahr eröffnete sie „Kitsch nation“ in der Kreuzberger Schönleinstraße. In der Straße sieht Kämpfer viel Potenzial; sie liege sozusagen im „Off“, etwas abseits der bekannteren, nahe gelegenen Graefestraße.

Fast täglich trägt die Autodidaktin eines ihrer selbst genähten Kleider. Aber: „Ich sehe das nicht als Label oder als Design. Für mich ist Mode ein Handwerk.“ Ein Ladenatelier, in dem die Nähmaschine neben der Kasse steht, passt zu dem Begriff des Handwerks, das in anderen Branchen als vom Aussterben bedroht gilt. Entwerfen und Schneidern ist für Kämpfer ein untrennbarer Vorgang. Die bunten, schwingenden Kleider im Stil der 50er Jahre werden für Hochzeiten, Abiturbälle, Motto-, Faschings- und Travestiepartys gekauft. Kämpfer freut sich, wenn Kundinnen plötzlich in ihrer Weiblichkeit erblühen, sobald sie die Kleider hinter einem Paravent im hinteren Teil ihres Geschäfts anprobieren. Die Spanische Wand hat die 32-Jährige mit einem lebensgroßen Foto ihrer tanzenden Eltern aus den 50er Jahren bedrucken lassen. Genauso extravagant sollte für sie auch Kleidung sein. „Bloß nicht Jeans mit Turnschuhen“, sagt sie.

Gemeinsam mit einer Heilpraktikerin entwarf die gelernte Modedesignerin Ulrika Böhm Nierenwärmer in verschiedenen Stoffen, Farben und Mustern. Sie hat ihr Handwerk, das Nähen, von ihrer Oma gelernt. Gesundheit und Design zu verbinden nennt sie „Swing für den Alltag“. Der Hang zum Alltäglichen hat Böhm auch vor vier Jahren in ihr Ladenatelier „Formfischer“ in der Bürknerstraße geführt, das sie sich mit der Designerin Sabine Steinort teilt. „In der Wohngegend nimmt man direkt am städtischen Leben teil“, so Böhm. Das inspiriert zu dem „urbanen Style“ ihres Labels „mingmen“, das bequem, tragbar und nicht zu außergewöhnlich sei.

Die Kundschaft der jungen Modemacherinnen kommt aus ganz Berlin, auch viele ältere Menschen sind darunter. Die Designerinnen haben die Erfahrungen gemacht, dass sich viele Kunden zurück nach individueller Mode sehnen. Ein besonderer Standortvorteil sind auch die durchweg günstigen Preise. Schließlich handelt es sich immer um Handarbeit.

Beim „Sideseeing Designmarkt“ präsentieren am 28. Februar über 40 Designer ihre Produkte im Heimathafen Neukölln, Saalbau Neukölln, Karl-Marx-Straße 141. Beginn 12 Uhr, Eintritt 2 Euro. Informationen auf www. heimathafen-neukoelln.de

Jana Scholz

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