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© Oliver Wolff

Musikvideos: Die Popstar-Discounter

Manche Musiker engagieren Filmregisseure für ihre Videos. Andere gehen lieber ins Straßenstudio nach Kreuzberg. Für 30 Euro die halbe Stunde.

Die Band verspätet sich. Autopanne oder so was. Norbert lehnt grinsend an der Bar. Ist eigentlich egal, wann sie kommen. Das Studio ist ohnehin leer. Und eine Band, die pünktlich kommt, kann nicht wirklich gut sein. Nach einer Stunde ist die „T.a.l.y.-Crew“ bereit zum Live-Act im „Straßenstudio Oio“. Ihr neues Hip-Hop-Video wird produziert. Eine halbe Stunde dauert das hier und kostet 30 Euro. Eine lächerliche Summe für den Start einer Musikkarriere.

Das Oio in der Reichenberger Straße, Kreuzberg, ist vordergründig ein schlichtes Café. Die Wendeltreppe abwärts führt aber nicht zu den Toiletten. Im Keller ist ein digitales Aufnahmestudio eingebaut, dessen technische Ausstattung viele computergenerierte Spielereien ermöglicht. Vorgelassen wird jeder, der sich auf einer grün ausgelegten Bühne mit Mikro und Kamera als Interpret versuchen möchte, um sich danach in einem Videoclip auf DVD oder im Internet wiederzufinden. Ob das künstlerisch wertvoll ist oder eher entsetzlich, darüber lächelt man hier freundlich hinweg.

Erfunden haben das Oio zwei musikaffine Unternehmensberater, Norbert Juchem, ein braungebrannter Charismatiker, und Joerg Weimann, der Skeptiker, der meistens ins Zwiegespräch mit seinem Laptop vertieft ist. Mit Oio wollen die beiden einerseits Spaß haben, andererseits Geld verdienen. Das mit dem Spaß läuft schon ganz gut, das mit dem Geld weniger. Die Statistik weist 1,2 Aufnahmen pro Tag aus, rechnen wird sich das Unternehmen erst ab 5 „Takes“ plus diversen Karaoke-Partys. „Wir sind da, wo wir laut Businessplan sein sollen“, sagt Weimann und verhehlt nicht, dass er gern schon weiter wäre. Ende April haben sie angefangen.

Das Straßenstudio sei weltweit einzigartig, sagt Weimann. Potenzial für maßloses Wachstum ist also da. Die Idee kam ihm beim Film „Walk the line“, in der Szene mit Johnny Cash als unbekanntem Musiker, der ins Studio von „Sun Records“ geht und über Nacht zum Star wird. Konkurrenz für die bestehenden Tonstudios wollen die Oio-Gründer nicht sein. Die Idee ist, Amateurbands billig zu einem Videoclip zu verhelfen, der sich auf den Internetportalen von Myspace oder Youtube sehen lassen kann. Dort, so geht das Gerücht, würden die Agenten der großen Musiklabels ständig nach frischen Talenten herumklicken.

Es kommen aber auch Leute ins Studio, die einen Videogruß für die Hochzeit von Freunden gestalten wollen oder ein Geburtstagsständchen für die Mama. Aus der Direktion 2 war vor kurzem eine fünfköpfige Polizeitruppe im Studio, um einen Playback-Song für einen Aktionstag gegen Drogen einzuspielen. Für 120 Euro hilft ein Musiklehrer über die kreativen Hürden beim Arrangieren eines Liebeslieds oder des Jubiläumssongs für eine Firma hinweg.

Wer möchte, kann sein Video auf der Oio-Internetseite der weltweiten Kritik aussetzen. Nach der Zahl der Klicks werden regelmäßig die Top Ten ermittelt. Ganz vorne zurzeit: „I’m drunk, every time we’re together“ von der Countryband Mountaineers. Der Autor Matthias Müller Lentrodt (MML) ist gleich mit zwei aufwühlenden Gedichtvorträgen im Rennen: „Dein Leib Kamikaze“ – was hymnisch Erotisches – und „Anna Blume“ von Kurt Schwitters – was subtil Witziges.

Die T.a.l.y-Crew, das sind Tutu aus Angola, Elparce aus Kolumbien und Sas aus Peru – alle drei leben seit Jahren in Berlin. Sie haben bei Konzerten schon mehrfach als Vorgruppe gespielt. Jetzt wollen sie ihren aus spanischen, deutschen und französischen Sentenzen gemixten Hip-Hop auf dem Musikportal I-Tunes vermarkten. Im Oio-Studio dürfen sie sich nur innerhalb eines schmalen Rechtecks bewegen, sonst fallen sie später von der computeranimierten Bühne. Der grüne Studiohintergrund ist nur der Platzhalter für einen beliebigen virtuellen Auftrittsort. 1000 Motive sind auf der Festplatte gespeichert. Brandenburger Tor, Oberbaumbrücke oder die Great Plains in Amerika sind nur einen Mausklick voneinander entfernt. Die T.a.l.y- Crew lässt sich probeweise vor den Fernsehturm stellen, findet den Hintergrund dann aber doch ziemlich unpassend.

Mehr zum Thema im Internet unter

www.strassenstudio.de

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