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Lass es raus. Der Beschwerdechor hat bereits in vielen Städten der Welt meckernde Menschen vereint. Zum Beispiel in New York, Tokio und St. Petersburg.

© Promo

Nörgeln nach Noten: Berliner singen ihre Beschwerden

Warum kommt die S-Bahn wieder zu spät? Weshalb ist die Nacht so schnell zu Ende? Ein Beschwerdechor soll das Klagen der Berliner auf die Bühne bringen - und jeder kann mitmachen. Doch es ist nicht leicht, die Hauptstädter aus der Reserve zu locken.

Sie dachte an die Berliner U-Bahn- Fahrer im Winter, als sie im Februar das erste Mal vom Beschwerdechor hörte. An die missmutigen Menschen, die leise schimpften, über das Matschwetter, über die Drängler, über den Verkehr. Und sie stellte sich vor, wie Kopftuchfrau, Anzugmann und Hipster gemeinsam ihre Klagen singen anstatt sie bloß vor sich hin zu raunen. Und das direkt auf dem U-Bahnsteig.

Ricarda Ciontos ist die Leiterin des Nordwindfestivals, der Kunstbiennale, die seit 2005 die Hochkultur aus dem Norden nach Berlin holt, und im Februar plante sie gerade die diesjährige Festivalausgabe. Es fehlte ihr noch ein Event, das jeden in der Stadt ansprach, auch jene, die sich nicht für nordische Musiker, Regisseure und Künstler interessieren. Ein Event, das Reibung in der Stadt erzeugt. Sie war sicher, mit dem Beschwerdechor das Richtige gefunden zu haben. Also rief Ciontos die Erfinder des Beschwerdechors an, das deutsch-finnische Ehepaar Tellervo Kalleinen und Oliver Kochta-Kalleinen.

Negative Energie des Meckerns in etwas Kraftvolles umwandeln

Die Performance- Künstler haben sich den Beschwerdechor ausgedacht, als sie vor acht Jahren in Helsinki wieder einmal über das Wetter meckerten. Diese negative Energie muss man in etwas Großes, Kollektives, etwas Lustiges und Kraftvolles umwandeln, sagten sie sich, schlugen zur Inspiration zu Hause im Wörterbuch nach und stießen auf Valituskuoro, was Dauermeckerer heißt und wortwörtlich Beschwerdechor. Sie nahmen das Wort beim Wort.

Im Jahr 2006 initiierten die Kalleinens den ersten Beschwerdechor, in Birmingham. Das Video dazu schaffte es auf die Startseite von Youtube. Seitdem haben mehr als hundert Beschwerdechöre in Städten wie St. Petersburg, Chicago, New York, Tokio, Singapur und Köln gesungen. Ein improvisierter Mini-Beschwerdechor trat bereits bei der Berlinale 2008 auf, auch die Literaturwerkstatt hat 2011 anlässlich des 20. Jubiläums einen Beschwerdechor organisiert.

Anlaufschwierigkeiten in Berlin

Einfach ist das in Berlin allerdings nicht. Festivalleiterin Ricarda Ciontos sitzt jetzt im Café des Künstlerhauses Bethanien, die Einsende- und Anmeldefrist für Beschwerden und Chor läuft nur noch wenige Tage. Vor ihr liegt ein weißes Blatt Papier mit wenigen Sätzen. „Warum schließen in Berlin so viele Bibliotheken?“, steht da zum Beispiel. „Die Berliner Politiker im Abgeordnetenhaus und in den Bezirksämtern sind oft provinziell!“ und „Warum ist die Nacht so schnell zu Ende!“ Ciontos ist eine dunkelhaarige Frau mit schwarzen Augen, nur das Norwegermuster des Ponchos erinnert an den Norden. Ihre Eltern stammen aus Rumänien. Die Mittvierzigerin hat das Norwindfestival vor sieben Jahren gegründet, als sie noch ausschließlich als Schauspielerin arbeitete und Stücke des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman in Berlin mit nordischen Kollegen spielen wollte. Sie blickt auf das Blatt vor sich und sagt: „Berliner demonstrieren zwar gern, aber für spielerische, humorvolle Proteste sind sie eher nicht zu haben“

Ciontos und ihre zwei Mitarbeiter haben vor einem Monat 50 Plakate aufgehängt, im Supermarkt, in Bibliotheken, in Cafés. Sie haben Flugblätter verteilt, auf Facebook den Beschwerdechor beworben, über eine Crowdfunding-Kampagne Gelder für das Projekt gesammelt.

"Es herrscht eine gewisse Angst, uncool zu sein"

Doch bis jetzt sind noch keine 20 Beschwerden von Berlinern bei ihnen eingegangen, und kaum einer der Absender will seine Beschwerde selbst singen. Im besten Fall aber sollen im Beschwerdechor 50 Menschen singen, im schlechtesten 20. „Ich fürchte, in einer Großstadt ist es besonders schwierig, die Menschen dazu zu bewegen, mitzumachen. Es herrscht eine gewisse Angst, uncool zu sein.“ Ricarda Ciontos denkt kurz nach und fügt an: „Außerdem ist es schwierig, die Menschen zu verpflichten. Viele, die hier leben, sind ja schon morgen ganz woanders.“

Auch in New York war es schwierig, die Menschen dazu zu bringen, sich öffentlich und singend zu beschweren. Wie in Berlin schickten viele Beschwerden, wollten aber nicht mitsingen. In Singapur kamen alle Beschwerden anonym bei den Organisatoren an, ein professioneller Chor vertonte schließlich das Beschwerdelied. Und überall sind Männer zurückhaltender als Frauen. In Dublin sang sogar ein reiner Frauenchor. Catriona Shaw „Miss le Bomb“, Künstlerin und Freundin der Beschwerdechor- Initiatoren, steht in einer kleinen Galerie in Neukölln zwischen ihren Zeichnungen und zuckt mit den Schultern. „Das wird schon“, sagt sie und lächelt ein wenig unsicher. Sie kann sowieso nichts machen, nur warten.

Shaw ist die Komponistin und Beschwerdechorleitern. Für die Berliner Beschwerden plant sie eine poppige Melodie im Garage-Rock-Style, mit Schlagzeug und Gitarre als Begleitinstrumenten. Festlegen will sie sich erst, wenn die Beschwerden vorliegen. „Ich lass mich von den Formulierungen inspirieren.“ Shaw lebt seit mehr als zehn Jahren in Berlin. Eigentlich ist sie Malerin, bekannt geworden ist sie aber mit Musik, mit dem Elektro-Projekt „Queen of Japan“, das Ende der 90er und Anfang der 2000er Pop-Klassiker coverte. Sie glaubt, Berlin gebe viel Anlass zum Meckern. „In der Stadt bekommt man nichts geschenkt“, sagt sie. „Das spornt einen an – oder es zieht einen runter.“

Noch bis zum morgigen Donnerstag, 24.Oktober, kann sich jeder für den Beschwerdechor anmelden und Beschwerden einreichen. Per E-Mail an: beschwerdechor-berlin@nordwind-festival.de oder mit der Post an: Nordwind Festival, Kunstquartier Bethanien, Betreff: Beschwerdechor Berlin, Mariannenplatz 2, 10997 Berlin. Am 3. November um 16 Uhr findet das erste Chortreffen statt, im Hebbel am Ufer, HAU 3, Tempelhofer Ufer 10, Kreuzberg. Vier weitere Proben folgen. Der Beschwerdechor tritt während des Nordwindfestivals auf, am 27. und am 30. November, voraussichtlich am Brandenburger Tor, am Hauptbahnhof und vor dem Hebbel am Ufer. Die genauen Uhrzeiten der Auftritte sind noch nicht bekannt.

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