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Olympiastadion

© Doris Spiekermann-Klaas

Olympiastadion: Nach den Regeln der Zeugen Jehovas

50.000 Gläubige tagen im Olympiastadion Ein Besuch in einer fremden Welt.

Auf den ersten Blick wirkt es, als würden die vielen Menschen alle auf ein sommerliches Picknick gehen: Frauen in schicken Sommerkleidern und Männer in dunklen Anzügen tragen Picknickkörbe, schieben Kinderwagen und unterhalten sich fröhlich. Kleine Kinder laufen umher, Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und Muttersprache schütteln sich lächelnd die Hände, und vor dem Tor des Olympiastadions werden Erinnerungsfotos geknipst. Darüber hängt an diesem Wochenende, an dem rund 50 000 Zeugen Jehovas nach elf Jahren hier wieder einen „International Kongress“ abhalten, in englischer, russischer, polnischer und deutscher Sprache der Leitspruch „Wacht beständig“. Dieses Motto scheint auch für den Fall fremden Besuchs zu gelten, denn trotz der als „öffentlich“ bezeichneten Großveranstaltung werden Journalist und Fotograf hier auf Schritt und Tritt begleitet.

Zuhören ist allerdings gestattet, und so bietet die vormittägliche Vortragsreihe „Als christliche Familie ständig wachsam sein“ gute Einblicke in die Erziehungsnormen der Organisation, die in Berlin nach einem 15-jährigen Rechtsstreit über die Rechts- und Staatstreue der Gemeinschaft seit Juni 2006 als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt wird. In vermeintlich spontanen Gesprächsrunden erzählt da zum Beispiel ein männlicher Jugendlicher in – wie bei allen Teilnehmern – spürbar auswendig gelernten Worten von einem Erlebnis in der Schule, bei dem er mit Fotos nackter weiblicher Körper konfrontiert wurde. „Ich habe zu dem Jungen sofort ‚hau ab!‘ gesagt und mir danach gedacht, eigentlich habe ich wie Joseph reagiert.“ Eine Haltung, die vom Gesprächsführer auch prompt wegen ihrer „Wachsamkeit gegenüber der Welt Satans“ gelobt wird. Die Schwester ergänzt dann die Erzählungen aus jugendlicher Sicht, indem sie betont, wie froh sie sei, dass ihre nicht berufstätige Mutter als Ansprechpartnerin stets zu Hause wäre und „dass das Essen immer pünktlich auf dem Tisch steht“.

Viel scheinen Frauen bei den Zeugen Jehovas generell nicht zu sagen zu haben, weder beim „Internationalen Kongress“ – alle eigentlichen Vorträge, auch die über die Aufgaben der Frau in der Ehe, werden von Männern gehalten – noch in der Partnerschaft. Der Mann repräsentiert als Führer der Familie das „von Gott vorgegebene Leitungsprinzip“, die Frau ist stets „milden Geistes“ und „demütig“ gegenüber ihrem Mann und widersetzt sich so dem „Unabhängigkeitsstreben der Welt Satans“, sprich der weiblichen Emanzipation. Das ist starker Tobak im Jahr 2009 – vor allem angesichts der vielen hundert Kinder, die neben ihren eifrig mitschreibenden Eltern auf den Bänken des Olympiastadions sitzen und zuhören: Ihnen wird das überholte Rollenverständnis quasi in die Wiege gelegt. Konrad Dinse, „regionaler Beauftragter für Nachrichten“, möchte die Aussagen sofort abschwächen: „Wenn nicht genug Geld da ist, kann natürlich auch die Frau arbeiten gehen.“ Und auch das klingt wie manches andere an diesem sonnigen Vormittag wie eine Aussage aus einer längst vergangenen Zeit. Eva Kalwa

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