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Kiezgeschichten. In der Immanuelkirchstraße lebte ein alter Mann, den viele Nachbarn kannten. Als er starb, trugen sie Erinnerungen zusammen.

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Prenzlauer Berg: TV-Doku über Nachbarn: Plötzlich fehlt da einer

Ein alter Mann stirbt - und mit ihm ein Stück Kiez in Prenzlauer Berg. Eine Nachbarin hat darüber einen TV-Film gedreht, der am Donnerstag auf Arte zu sehen ist.

Sie kamen, um ein letztes Mal das zu tun, was sie täglich getan hatten: Sie kamen, um Herrn Buchholz zu grüßen.

Es war ein kalter Montagmorgen auf dem Georgenfriedhof in Prenzlauer Berg. Nach und nach trudelten Leute ein, manche alt, viele jung. Unter ihnen die Filmemacherin Mechthild Gaßner. Die Geschichte um Herrn Buchholz hatte sie berührt. In der kleinen Kapelle füllten sich die Plätze – bis keiner mehr frei war.

Am 27. Februar 2012, um 9 Uhr, 80 Jahre und einen Tag, nachdem er geboren worden war, verabschiedeten sich so die Anwohner der Immanuelkirchstraße von Herrn Buchholz. Tag für Tag hatte er vor der Hausnummer 9 oder auf seinem Balkon im zweiten Stock gestanden. Er ist ihnen auf der Straße begegnet, hat ihnen zugenickt, sie gegrüßt. Gerhard Buchholz war für seine Nachbarn im Kiez rund um die Immanuelkirchstraße eine Institution: „Er war ein so kleiner schmächtiger Mann, mit weißen Haaren, weißem Bart und blitzeblauen Augen“, erzählt Regisseurin Mechthild Gaßner.

Drei Jahre lang wohnte sie selbst in der Immanuelkirchstraße, nur zwei Häuser von Herrn Buchholz entfernt. „Er fiel mir schnell auf: Alle rennen, nur er ist gemächlich unterwegs gewesen. Hielt an und wünschte einen schönen Tag.“

Als Buchholz im Winter 2011 starb, spürten alle Nachbarn, dass etwas fehlte. Und plötzlich hingen da Zettel aus, in den Schaufenstern, riefen auf, für die Beerdigung zu spenden. Innerhalb kürzester Zeit kamen mehr als 3000 Euro zusammen. „Herr Buchholz hat eine Lücke hinterlassen“, sagt Gaßner. Als sie die große Anteilname an seinem Tod bemerkte, beschloss sie, seine Geschichte zu erzählen.

In ihrem 52-minütigen Film lässt sie die Anwohner aus dem Kiez über den Nachbarn erzählen. „Ich kann nicht klagen. Essen, trinken schmeckt!“ – diesen Satz kennt jeder. Es war seine Standardantwort auf die Frage, wie es ihm gehe. Jeder in der Gegend hat Szenen mit ihm erlebt, beobachtet, wie er durch die Straßen schlenderte, beim Bäcker seinen Kaffee trank, in einem Geschäft telefonierte, einkaufen ging. „In der Straße stand er für eine Kontinuität, die es heute so nicht mehr gibt“, sagt Gaßner, „selbst manche Geschäfte, die man im Film noch sieht, sind jetzt schon nicht mehr da.“

Alle im Kiez wussten, wer Herrn Buchholz war - und doch kannte ihn kaum einer richtig. Was war seine Geschichte? Wo stammte er her? Hatte er Freunde, Familie? Was hatte er erlebt? Vieles an Herrn Buchholz war ein Rätsel – und auch nach dem Film wird vieles wohl für immer rätselhaft bleiben. Die Erzählungen seiner Nachbarn können seine Identität nur näherungsweise aufdecken.

Doch für Gaßner ist die Dokumentation mehr als das Porträt eines alten Mannes: „Es geht darum, aufzuzeigen, warum sich manche Menschen engagieren und andere nicht. Eine Nachbarin von Herrn Buchholz hat hingeschaut, sich um ihn gekümmert – ich habe ihn nur gegrüßt. Warum ist das so?“

Zur Beerdigung lag ein Blumenkranz an seiner Urne. „Es war schön, dass Sie da waren. Ihre Nachbarn“, stand auf der Schleife. Der Tod von Herrn Buchholz hat eine Lücke aufgerissen. Weil sie diese Lücke spürten, kamen viele Menschen zusammen, die einander nicht kannten, aber von Herrn Buchholz zu erzählen wussten. Es entstand ein neuer Zusammenhalt, der die Lücke in gewisser Weise schließen konnte.

„Einer fehlt“, heute 23 Uhr, Arte

Karoline Kuhla

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