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Rückblick: Null Langeweile

Brad Pitt kam dann doch nicht. Dafür das Berghain, Public Viewing und Spice. Ein Rückblick auf zehn Jahre Stadtleben

WARTEN AUF BRANGELINA

Berlin rechnete mit Brad Pitt und bekam Til Schweiger: Die Aufregung war groß, als dem schönen Brad mit seiner noch schöneren Angelina nachgesagt wurde, sie hätten ein 600-Quadratmeter-Dachgeschoss in NoTo (sprich „North of Torstraße“, der am wenigsten angesagte Teil Mittes) erworben. Das stimmte zwar nicht, reichte aber für eine wilde Diskussion, wer denn noch so Berliner werden könnte. Die Hollywood-Umzugsbilanz war am Ende zwar plus minus null, aber immerhin packten deutsche Kinogrößen wie Til Schweiger und Heike Makatsch ihre Koffer in Berlin aus.

TRENDIGE SPORTARTEN

Slacklining, Bouncing, Juggern, Parcours, Icecrossdownhill, Speedminton, Nightminton, Guerilla-Golfen, Geocaching, Skiken. Spielt eigentlich noch jemand Tischtennis?

WARM ANZIEHEN

Männer rasierten sich die Brust und Achseln, probierten Hautcremes bei Douglas und trugen Umhängetaschen. Hetero sein, aber schwul aussehen (oder besser das, was sich die Industrie darunter vorstellte), das war das Konzept von „metrosexuell“. In Marzahner und Kreuzberger Plattenbauvierteln hat sich der Trend verselbstständigt, so dass bis heute Jungmänner glauben, sie müssten sich mit Axe eindieseln und die Augenbrauen zupfen.

SOMMERGRIPPE

Einst stieg Ariane Sommer in eine Wanne mit Schokopudding. Da hätten wir bereits ahnen müssen, wie sehr uns die Loths, Gsells, Rowes und eben Sommers zehn Jahre lang auf die Nerven gehen würden. Selbst Partyveranstalter ächzen inzwischen, aber die gerufenen Geister werden sie nicht mehr los. Und wo sich ein Luder zur Ruhe setzt, steht die nächste Davorka schon bereit.

DEINE SPUREN IM SAND

Erst kamen die Strandbars, dann die passenden Getränke: Becks Gold, Bionade, Club Mate und Club-Mate-Cola. Nur Becks Zero gibt’s immer noch nicht.

GELIEBTER BASTARD

Zwei Vierteln wurde eine Zukunft als Szenekiez prophezeit: Wedding und Nordneukölln. Wedding wartet noch immer, aber „Kreuzkölln“ erlebte einen Boom, dass die Weserstraße bereits als neue Simon-Dach-Straße gehandelt wird und Initiativen vor einer Yuppie-Schwemme warnen. Die wirksamsten Mittel gegen Gentrification: Satellitenschüsseln am Balkongitter montieren und die Feinrippunterhemden aus dem Fenster hängen.

PLACES TO BE

Das Goya blieb nicht lange geöffnet, das Ostgut wurde abgerissen, das 90 Grad erlebte einen traurigen Niedergang. Dafür machten andere Clubs auf: White Trash, Week End, Bar 25, Astra und natürlich das Berghain. Das WMF blieb derweil konstant auf Wanderschaft. Und das Borchardt bekam Konkurrenz vom Grill Royal, das Kreuzberger Prinzenbad vom Badeschiff in Treptow.

UND ALLE SO YEAH

Kein Fußballturnier ohne „Public Viewing“, keine Staatssause ohne Party. Die Massen zieht’s nach draußen – und nicht nur auf die Straße des 17. Juni. Mit einer Bierflasche in der Hand – die Bierbüchse ging 2003 mit der Einführung des Dosenpfands von uns – vergnügt sich die Stadt im Kollektiv unterm Sternenhimmel, zum Beispiel auf der Admiralbrücke in Kreuzberg. 

ÖKO STATT JUGO

Die Fleischberge wurden in diesem Jahrzehnt abgetragen. Niemand will mehr Pola-Pola-Platte bestellen und Cevapcici kauen – „zum Jugo“ geht’s immer seltener. Genauso wie „zum Griechen“. Stattdessen wird überteuertes Sushi nach Hause geschleppt und beim noch viel teureren Ökomarkt eingekauft.

EINHEITSBREI

Es ist wie bei Hase und Igel: Wo man auch hinkommt, der Backshop ist schon da. Und der Nummernziehfriseur für zehn Euro und das Nagellackierstudio. Seit 2007 gibt es endlich auch einen McDonald’s in Kreuzberg, und bald sogar zwei.

TRAG- UND STREITBAR

Über American Apparel und übergroße Sonnenbrillen kann man sich streiten. An Röhrenjeans und Leggins können Freundschaften zerbrechen. Dass Ed Hardy eine der angesagtesten Labels der nuller Jahre werden würde, war auch nicht vorhersehbar. Zumindest blieb das Comeback des Pali-Tuchs nur ein kurzes.

ES GILT DAS GESPROCHENE WORT

Nirgendwo war Hip-Hop so ätzend, albern, eklig wie in Berlin. 2004 brachte Sido seine Hymne an das Märkische Viertel heraus („Mein Block“), Aggro wurde bekannt, Bushido kam groß raus („Endgegner“). Heute sind die Texte fast brav, und Sido trägt Mittelscheitel. Aber die nächste Generation wetzt schon die Messer.

SCHLANGE VERSTEHEN

Das Warten erhielt eine neue Dimension, als das New Yorker  MoMA 2004 einen Teil seiner Sammlung nach Berlin verlieh. Bis zu fünf Stunden standen sich Kunstbeflissene die Beine vor der Neuen Nationalgalerie in den Bauch. Die Schlange ringelte sich einmal ums Gebäude, und drei Jahre später wiederholte sich das Ganze, als die „Schönsten Franzosen“ – ebenfalls aus New York – zu sehen waren. Und weil das Warten in der Masse so viel Laune macht, stand Berlin zwischendurch 2006 am Bodemuseum an und dann nochmal 2009 vorm Neuen Museum.

ANDERS DRAUF

Die gute Nachricht: Der Verzehr von Ecstasy-Pillen ging in Berlins Clubs zurück. Dafür wurde viel anderer Blödsinn geschluckt, zerkaut und geraucht. GHB macht hochgradig asozial, Tilidin-Konsumenten werfen mit Gullydeckeln. Seit Spice verboten wurde, heißt das Zeug zum Rauchen Space, Scope, Shadow, Sence Second Edition.

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