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Stadtleben: Scheidung kam nie infrage

Aus dem Nachlass ihrer Eltern hat Irène Alenfeld den Alltag einer christlich-jüdischen Familie in der NS-Zeit rekonstruiert

Immer wieder half die Mutter anderen beim Aufbruch. Sabine Alenfelds Taschenkalender ist voller Einträge „Packen bei ...“. Es waren aber keine Koffer für die Ferienreise, die da 1938/39 hektisch gefüllt wurden, sondern es war Hab und Gut für die Auswanderung in letzter Minute. Im Kalender 1942 gibt es nur noch „letzte Besuche bei ...“. Wer in diesem Jahr als Jude Berlin verließ, schnürte nur noch ein Bündel, etwa für den „Umzug ins Altersheim Theresienstadt“. Die Kalender von Sabine Alenfeld halten im Stakkato des Alltags fest, wie die Berliner Juden an den wirtschaftlichen Rand gedrängt, aus der Öffentlichkeit verbannt, schließlich deportiert und umgebracht wurden.

Sie selbst war Protestantin. Auch ihr Mann, Erich Alenfeld, Spross einer Bankiersfamilie, war evangelisch getauft. Seine Eltern aber waren „mosaischen Glaubens“. Sie wollten, dass ihre Kinder ganz in die deutsche Gesellschaft eintauchen und sich assimilieren. Nach 1933 nutzte Erich Alenfeld die Taufe so wenig wie das Eiserne Kreuz I. und II. Klasse aus dem Ersten Weltkrieg. Hätte sich seine Frau von ihm scheiden lassen, wären er und die beiden Kinder den Nazis hilflos ausgeliefert gewesen. Anders als in anderen jüdisch-christlichen Familien kam die Zwangsscheidung für die Alenfelds nie infrage.

Irène Alenfeld, die 1933 geborene Tochter, hat die Kalender und viele Dutzend Briefe nach dem Tod der Mutter im Schreibtisch im Zehlendorfer Elternhaus gefunden. Es war eine Überraschung. Irène Alenfeld hat daraus die 470-seitige Familiengeschichte „Warum seid ihr nicht ausgewandert?“ rekonstruiert. Abstrakte Zeitgeschichte rückt in den Briefen des Ehepaares und den Schulaufsätzen der Kinder beklemmend nahe, wenn etwa Tochter und Sohn ein NS-Fähnchen haben wollen wie alle anderen auch, während der Vater aus dem Beruf getrieben und von der Gestapo vorgeladen wird.

1942/43 hat die Mutter immer wieder Beerdigungstermine in ihren Kalender eingetragen. Denn viele jüdische Freunde der Familie entzogen sich dem Abtransport in die Konzentrationslager, indem sie Gift schluckten oder sich erschossen. Auch Martha Liebermann, die Witwe des berühmten Malers, nahm lieber Tabletten, als deportiert zu werden. 85 Jahre war sie alt, als sie am 10. März 1943 im Jüdischen Krankenhaus „sanft entschlief“, wie Erich Alenfeld der Tochter der Liebermanns in die USA schrieb, die dort hilflos hatte zusehen müssen, wie ihre Mutter in Berlin von Monat zu Monat mehr umstellt wurde. Als sich die alte Dame der Bedrohung bewusst wurde, war es zu spät für die Auswanderung, die Bedingungen der Nazis für die Ausreise konnte auch eine Martha Liebermann nicht mehr erfüllen. Erich Alenfeld hatte sich in ihrem letzten Lebensjahr um die Malerwitwe gekümmert, er hatte sie in den zwanziger Jahren im Berliner Salon seiner Tante kennen gelernt. Martha Liebermann wurde auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee beerdigt, weder Kerzen noch Blumenschmuck waren erlaubt. „Als wir heraustraten, da schien die Sonne und bestrahlte das Abschiednehmen. Dann folgten die uralten Sprüche des Rituals, zum Schluss das Totengebet, Kaddisch, ein Klang aus vergangenen Jahrtausenden“, schreibt Alenfeld an die Tochter in den USA.

Die Frage, warum die Eltern nicht ausgewandert sind, beantwortet Erich Alenfeld seiner Tochter Jahre nach dem Krieg, kurz vor seinem Tod. „Alles habe er ertragen, um in seiner angestammten Heimat bleiben zu können“, schreibt sie. „Zur Heimat gehörten auch diese Kleinmütigen, denen es an Courage gefehlt habe, die Heimat umfasse alles: Gutes und Schlechtes, menschliche Enttäuschungen wie überraschende Hilfsbezeugungen. Es sei an ihm, großzügig zu sein, verzeihen zu können, menschliche Schwächen mit Verständnis zu begleiten, solange sie nicht in Verrat und Mord ausgeartet wären.“





— Irène Alenfeld:
Warum seid ihr nicht ausgewandert? Überleben in Berlin 1933 bis 1945. Verlag Berlin- Brandenburg. 480 Seiten, 80 Abbildungen, 24,95 Euro

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