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Segelkurs für blinde Kinder und Jugendliche: Volle Seekraft

Blinde Kinder, die segeln? Gibt’s doch gar nicht. Und ob. In Tegel lassen sie sich den ganzen Sommer über auf das Abenteuer ein, Boote zu steuern.

Es gibt viele, die sich das nie trauen würden: Sich in eine kleine Jolle setzen, die schon beim Einsteigen schwankt und erst recht bei etwas Wellengang. In der man sich leicht den Kopf am Baum stoßen kann und die sich bei starkem Wind so sehr neigt, dass man auf der schmalen Bootskante nahezu über dem Wasser balanciert. Wie muss es erst sein, wenn man in einer solch wackeligen Nussschale nur schlecht oder gar nicht sehen kann? Der 15-jährige Felix aus Tempelhof weiß es, er ist blind. Gerade segelt er mit Johann, dessen Sehvermögen bei knapp 30 Prozent liegt, auf die Insel Hasselwerder zu. Die „Flying Bee“ steht gut am Wind, die nötige Wende gelingt mühelos – Felix und Johann haben die gutmütige gelbe Jolle voll im Griff. Kein Wunder, Felix segelt seit sechs Jahren und genauso lange nimmt er an der jährlichen Segelwoche für sehbehinderte und blinde Kinder und Jugendliche am Tegeler See teil.

Das deutschlandweit einzigartige Angebot des Bundes zur Förderung Sehbehinderter, kurz BFS, gibt es in jedem Sommer. Bis zu zwanzig Kinder aus verschiedenen Bundesländern nehmen daran teil. Die Segelwoche ist die Ergänzung eines regelmäßigen Angebots, das vom BFS-Landesverband Berlin-Brandenburg bereits seit 1977 organisiert wird: Von April bis Oktober findet an jedem zweiten Samstag im Monat ein Segelkurs am Schülerbootshaus Tegel am Nordufer des Sees statt. „Das erste Mal auf einer Jolle war schon etwas unheimlich, aber mittlerweile macht mir das Segeln einfach nur Spaß“, erzählt Felix, der in seiner Freizeit auch gern Rad fährt und schwimmt, Schlagzeug spielt und später mal Informatik studieren möchte.

Damit die blinden und sehbehinderten 9- bis 18-Jährigen in ihren orangefarbenen, ohnmachtssicheren Rettungswesten gefahrlos auf dem Wasser unterwegs sein können, steht ihnen die Hilfe von zwölf erfahrenen, ehrenamtlichen Segellehrern zu Verfügung. Diese begleiten die fünfzehn Segeljollen des Vereins mit fünf Motorbooten – je nach Können und Sehvermögen der Segler im Abstand von zwei Metern oder in guter Sichtweite. Immer sind die Lehrer jedenfalls so nah dran, dass sie auf Zuruf oder über Megaphon Kommandos für ein notwendiges Manöver wie eine Wende geben oder Hilfestellung leisten können und auch bei einem etwaigen Kentern der Jolle rasch vor Ort sind. „In den 34 Jahren unseres Bestehens hat es noch nie einen ernsthaften Unfall gegeben“, sagt Jörg Sendlewski, Segellehrer sowie Gründungsmitglied und zweiter Vorsitzende des Vereins. Wenn der 64-Jährige seine Freizeit nicht am Tegeler See verbringt, unterrichtet er an der Reinickendorfer Lauterbach-Schule mit den sonderpädagogischen Förderschwerpunkten Lernen und Sprache.

Damit Anfänger ein Gefühl dafür entwickeln, wie eine „Flying Bee“ oder ein englischer Topper aufgebaut sind, ertasten sie zunächst kleine Modellboote. Dann geht es zusammen mit einem Segellehrer auf die größeren Jollen, die Fortgeschrittenen segeln zu zweit eine der „Flying Bees“ und wer schon richtig gut ist, darf allein in einen der Optimisten oder Topper. Alle Teilnehmer verfügen über das Jugendschwimmabzeichen Bronze, keines der Boote hat eine besondere Ausstattung, nur die Leinen an Bord sind zum besseren Erkennen besonders kontrastreich gehalten. Auch für Marcel, dessen Sehvermögen auf dem rechten Auge zwei, auf dem linken zehn Prozent beträgt, ist es soweit, obwohl der 16-Jährige erst vor wenigen Tagen das erste Mal auf dem Wasser war: Er darf den schnellen Topper segeln. „Ich bin schon etwas aufgeregt“, gibt Marcel zu. Eine Stunde später kreuzt er mit glücklichem Lächeln über den See.

Die zwei bis drei Windstärken an diesem sonnigen Tag sind für die Segler perfekt, sie garantieren ein sicheres Gefühl und schnelle Erfolgserlebnisse. Und die sind sehr wichtig, gerade weil viele von ihnen im Alltag immer wieder die Erfahrung machen, dass andere ihnen sagen: „Das kannst du nicht. Du siehst nichts und bist außerdem viel zu langsam.“ Wie vorurteilsbehaftet und oft nur der eigenen Bequemlichkeit geschuldet solche Aussagen sind, merkt man im Umgang mit den Kindern schnell. Da ist zum Beispiel Valeria aus Köln. Die 14-Jährige, die auf dem linken Auge gar nichts und auf dem rechten nur sehr wenig sieht, wird zu Hause und auf dem einzigen deutschen Gymnasium für Blinde und Sehbehinderte in Marburg sehr gefördert. Sie rudert und spielt Fußball und interessiert sich für japanische Kultur. Später möchte sie mal Politikerin im Europaparlament werden. „Deshalb finde ich es toll, dass wir bei einem Ausflug sogar in den Plenarsaal des Bundestages durften“, erzählt sie. Diese zusätzlichen Ausflüge, unter anderem auch zur Feuerwehr und der Polizei, finden alle Teilnehmer der Segelwoche toll. Auch Peter aus Bad Saarow, der ausgebildeter medizinischer Bademeister und Masseur ist und über ein Sehvermögen von zehn Prozent verfügt. Zwar sind die Bewegungen des 18-Jährigen langsam, aber am Ende ist das Großsegel perfekt gesetzt. – „Das kannst du doch nicht“? Es kommt ganz darauf an.

Schülerbootshaus Tegel, Schwarzer Weg 25, bis Oktober jeden zweiten Samstag 10-14 Uhr, Infos: Tel. 40 63 63 59, www.bfs-berlin.de

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