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Tagesspiegel-Umzug: Der beste Ort

Der Tagesspiegel und diese Stadt: Für die Zeitung bedeutet das die Aufgabe, Berlin in seiner Rolle als Hauptstadt und als werdende Metropole voranzubringen. Ein Rückblick auf bewegte Zeiten seit dem Fall der Mauer - aus Anlass unseres Umzugs an den Askanischen Platz.

In Berlin Zeitung zu sein, Zeitung zu machen: Es ist und bleibt ein Abenteuer – und ein Vergnügen. Nirgendwo ist die Präsenz der Printmedien, die noch immer das wichtigste Netzwerk von Information und Meinungsbildung bilden, so dicht wie hier. Nirgendwo gibt es auch die Herausforderung durch gleich zwei politische Ereignis- und Einflusszentren – Stadt und (Bundes-)Staat, kommunal gebundene Politik und die große Politik-Maschine, Rathaus und Regierungsviertel. Hier hat ein Blatt die Chancen, Hauptstadt-Zeitung zu sein und Zeitung für die Hauptstadt, also noch für vieles andere – ein Kulturleben von hohem Niveau, eine pulsierende Bildungslandschaft, das nie langweilende Schauspiel eines Lebens zwischen Kiez und Szene. Und natürlich gibt es keine andere Stadt, in der unter der Haut das Ereignis einer so unglaublichen Veränderung steckt wie in Berlin.

Der Tagesspiegel ist, was sonst, Teil dieser einzigartigen Situation. Was sich, unter anderem, auch daran zeigt, dass man den Weg der Stadt, zumal ihrer Neu- und Wiedergeburt, in ihm nicht nur nachlesen konnte, sondern an seinem Wandel auch ablesen kann. Denn als Berlin seine Wende erlebte, begann der Tagesspiegel seine Wende. 1990/91 vollzog er den Auszug aus seiner Nachkriegsform: ein neues größeres Format, sechs Spalten, ein neues Layout, eine neue Blatt-Gliederung, dazu eine neue Technik, eine neue Druckerei und eine erweiterte Redaktion – alles (fast) auf einen Streich, ein beispielloses Unternehmen. Seither scheint der Tagesspiegel mit dem Erneuern gar nicht mehr aufgehört zu haben. So dass nun nur noch fehlte, was sich jetzt vollzieht: der Abschied vom alten Standort, der Anfang an einem neuen.

Die Zeitung war also dabei, als Berlin zum neuen Berlin wurde, auch wenn sie nicht die Zeitung für das gesamte Berlin wurde, die sie werden wollte. Aber ist Berlin schon zu einer Stadt geworden? Der Vereinigung auf den Fersen war der Tagesspiegel von Anfang an. Er verfolgte das Zusammenwachsen von Verwaltung und Infrastruktur Schritt für Schritt – jede Ost und West wieder verbindende S-Bahn-Linie ein Aufmacherartikel, das erste gesamtberliner Telefonbuch ein Triumph, der Einzug des Senats ins Rote Rathaus ein Höhepunkt. Doch zugleich hat die Zeitung versucht, die Stadt als Lebensraum für sich und ihre Leser zurückzugewinnen – „Berliner Wege“ zwischen gestern und morgen wurden gesucht, Stadtspaziergänge unternommen, bei denen der Kollege aus dem Osten den Westen, der aus dem Westen den Osten erkundete, Literaturorte und Stadtteile hüben und drüben besucht. Als es in Bonn zum Schwure kam, waren wir auf alles gefasst, hatten also drei Leitartikel vorbereitet – und waren glücklich, dass wir den mit dem Titel „Eine Hauptstadt für alle Deutschen“ ins Blatt heben konnten, nicht den, über dem „Eine verpasste Chance“ gestanden hätte.

Im Kampf um Berlin, diesem langen zähen Ringen, wie viel Hauptstadt der knapp gewählten Hauptstadt denn zugebilligt werden sollte, war der Tagesspiegel, versteht sich, Partei. Nicht als eifernder Lokalpatriot, sondern als Verfechter der Überzeugung, dass Berlin wieder zur Mitte der deutschen Politik werden müsse – aus wohl verstandenem gesamtdeutschem Interesse. Es gab auf seinen Seiten auch kein giftiges Anti-Bonn-Ressentiment, dafür aber entschiedenen Widerstand gegen die Tendenz, die Stadt am Rhein zu einer zweiten Hauptstadt zu machen. Und massive Kritik daran, dass die Umzugs-Debatte je länger, desto mehr zu einem Gezerre um Milliarden, Quadratmeter und Termine wurde – und das politische Ziel auf der endlos erscheinenden Strecke fast aus den Augen verlor.

Dass die Stadt über die Jahre eine große Baustelle war, im Innern und im Äußern – es war das Haupt- und Magen-Thema der Zeitung, die in der Potsdamer Straße zu Hause war, in Sichtweite des Potsdamer Platzes, also einem Brennpunkt der Stadtreparatur. Sie bangte mit, war, zugegeben, gelegentlich verzagt gegenüber der Größe der Aufgabe, behielt aber den Grundoptimismus, dass der große Umbau schon gelingen würde. Für das Blatt waren das Jahre eines Spagats, denn es galt das Neue wahrzunehmen und gleichzeitig einem sperrigen Alltag gerecht zu werden – da der Streit um die Schließung des Klinikum Steglitz, da die Parkplatzbewirtschaftung, dort der immer wieder neu untergehende Kurfürstendamm. Und das in einer Stadt, die mit einem Fuß im Übermorgen stand, – Marke: mitteleuropäische Metropole –, und mit dem anderen in der brisant wachsenden Misere ihrer Finanzen!

Immer wieder war der Tagesspiegel auch mitten im Getümmel, zumeist mit Vorsatz. Er hat sich, zum Beispiel, voller Ingrimm für das Schiller-Theater in die Bresche geworfen – legendärer Leitartikel-Titel: „Ein Mordfall“. Er beteiligte sich mit einem eigenen Wettbewerb an der Schlossplatzdebatte. Über Wochen und Monate arbeitete er daran, den Bank-Gesellschafts-Skandal aufzudecken. Er hat sich sogar gewagt – sozusagen unter den Heiß-Kalt-Güssen der bundesweiten Debatte über Berlin –, die Frage aufzuwerfen, ob das Berlin-Ba- shing, das nach dem Umzug republikweit in Mode kam, berechtigt sei. Alles nur Subvention, Größenwahn, notorische Insel-Mentalität? Oder hielt sich da mancher in der Republik nur schadlos für die Hauptstadt-Entscheidung? Dabei darf sich der Tagesspiegel zu gute halten, dass er sich in Sachen Berlin-Kritik von niemandem übertreffen lässt.

War der Tagesspiegel in allen diesen Jahren auf der Höhe der Zeit? Soweit man das bei diesen turbulenten Zeiten überhaupt sein konnte, vielleicht schon. Allenfalls bleibt die Frage, ob er sie zu sehr aus West-Sicht wahrgenommen hat. Zugegeben, er konnte nicht immer aus seiner Haut, die ihm nun einmal im Westteil der Stadt gewachsen war, aber Mühe hat er sich wahrhaftig gegeben. Es gab ja auch die Zuschriften der Leser aus, sagen wir, Zehlendorf, die sich über die Beiträge aus Hellersdorf oder Friedrichshain beklagten, weil sie doch auch Probleme hätten.

Während der Tagesspiegel die Stadt bei ihrer schwierigen Hauptstadtwerdung begleitete, erlebte er seine eigene Veränderung. Denn nicht der erwartete Rückenwind, sondern ein kühler (Konkurrenz-) Wind wehte heftiger, nachdem Berlin nach den langen Insel- und Hauptstadt-der-DDR-Jahren mit der Einheit wieder den Anschluss an die deutsche Medienlandschaft gefunden hatte. Seitdem sich die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck 1993 beim Tagesspiegel engagiert hatte, wurden Erneuerungen möglich, die das Blatt in die Lage versetzten, seinen angestammten Platz im neuen Berlin zu behaupten. Manches vom alten Tagesspiegel blieb dabei auf der Strecke, viel Neues kam: neue Chefredakteure und Redakteure, Bilder, Farbe und eine gründliche Umstrukturierung des Verlags. Der Tagesspiegel wurde eine moderne Tageszeitung.

Das alles geschah nicht zum Selbstzweck. Der Grundsatz stand in dieser Zeitung: Wir ändern den Tagesspiegel, damit er der Tagesspiegel bleibt. Eben das war auch das Ziel des neuen Inhabers: eine Qualitätszeitung für Berlin und für Deutschland, eine regionale Zeitung mit überregionaler Ausstrahlung. Doch damit setzt sich nur die Biographie des Blattes fort. Denn als der Tagesspiegel 1945 als erste von Deutschen gestaltete freie Zeitung im damals noch ungeteilten Berlin gegründet wurde, hatte er sich bewusst – mit Vier-Seiten-Umfang, aber unverdrossen – in die Tradition der großen Berliner Meinungsblätter der Vergangenheit gestellt.

Auch als er zur Zeitung aus der Halbstadt West-Berlin geworden war, hielt er daran fest. Er begnügte sich nie damit, eine Lokalzeitung zu sein, sondern blickte unverdrossen über den Tellerrand, versorgte seine Leser auch mit langen außenpolitischen Leitartikeln und hatte den Ehrgeiz, den kulturellen Leuchtturm, der Berlin auch in den Jahrzehnten der Teilung war, mit einem Feuilleton zu bedienen, das sich mit den großen westdeutschen Zeitungen messen konnte. Nur so konnte er überleben, während seine Generationsgenossen längst den großen Berliner Zeitungsfriedhof bevölkern. So wurde er zum Platzhirsch, zwar bespöttelt als alte Tante Tagesspiegel, dafür aber sehr überlebenskräftig. So wie er an der alten Devise in seinem Titelkopf festhält: „Rerum cognoscere causas“ (Den Dingen auf den Grund gehen), so spiegelt sich seine Existenz im Wort eines Senatssprecher: „Der Tagesspiegel ist der Tagesspiegel – alles andere ist alles andere“.

Etwas verwundert, aber sehr zufrieden hat der Tagesspiegel registriert, dass mit dem Umzug die Einwände gegen die Hauptstadt Berlin verschwanden als seien sie durch eine Falltür gefallen. Nun waren mit einem Male alle begeisterte Berliner. Nun sieht die Zeitung den Zustand der Stadt nicht mehr nur unter dem Gesichtspunkt des Miteinander- oder Nebeneinanderlebens von West- und Ostberlinern, sondern auch von Alt- und Neuberlinern. Berlin bedeutet nun einen neuen Spagat: die Regierungsstadt widerzuspiegeln, die sich entlang der Spree und in Mitte ausgebreitet hat – und, siehe da, auch nicht viel anders ist als Bonn, nur größer und mit viel Stahl und Glas – und die Stadt mit ihren Event-Lichtern und Problemquartieren im Auge zu behalten. Der Schmelztiegel, der Berlin wie jede Metropole ist, hat noch viel zu schmelzen.

Ist der Tagesspiegel angekommen im neuen Berlin? Ist er ihm gar voraus? Die Neu-Berliner, die mit dem Regierungsumzug in die Stadt kamen, griffen überwiegend zum Tagesspiegel. Er hat eine redaktionelle und verlegerische Kapazität gewonnen, von der der alte Tagesspiegel nur träumen konnte. Er bewegt sich auf der Höhe der modernen Zeitungsgestaltung: Großflächig im Layout, keck im Verhältnis von Bildern und Text, offen im Zugriff auf die Themen. Mit Service-Angeboten wie, beispielsweise, dem jährlichen Klinik-Führer, mit neuen Produkten wie dem Mittelstandsmagazin „Berlin Maximal“ und der Online-Redaktion, die er und die „Zeit“ betreiben. Und ist er nicht auch näher dran am Großstadt-Rhythmus Berlins als je zuvor? Die frischen Zeitungen des nächsten Tages bekommt der Leser schon am Vorabend in den Kneipen und vor den Theatern.

Der Tagesspiegel und diese Stadt: Für die Zeitung bedeutet das die Aufgabe, Berlin in seiner Rolle als Hauptstadt und als werdende Metropole voranzubringen. Wie Altbundespräsident Richard von Weizsäcker, notabene: ein notorischer Tagesspiegel-Leser, der Zeitung in ihrer Jubiläumsausgabe zum 60-jährigen Bestehen zugerufen hat, sie möge „in ihrer ganzen Unabhängigkeit und Urteilskraft“ ihren Beitrag zur Politik in Deutschland leisten. „Sie kann das hier besser als an jedem anderen Ort“.

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