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Tunix-Kongress: Am Strand von Utopia

Vor 30 Jahren kamen 20 000 Menschen zum "Tunix-Kongress" und begründeten die Kultur des Andersseins. Jetzt ist Tunix wieder aktuell. Die "digitale Boheme" hat parallele Gedanken entdeckt.

Tunix liegt in der Karibik. Diethard Küster war vor kurzem wieder da. Eine kleine Insel mit Menschen, die sich nicht gegenseitig mobben, wo keiner klaut und die Frauen das Sagen haben. Vier Wochen Urlaub vom Kapitalismus. War doch so gemeint, oder? Vor 30 Jahren im Aufruf zum großen Klassentreffen der Spontis, Hippies, Ökos, Pazifisten, Atomkraftgegner und Szenefreaks: „Wir flaggen unsere Traumschiffe mit den buntesten Fahnen und segeln in den Süden davon – zum Strand von Tunix.“

Auf die poetischen Zeilen, die einen der größten und wirkungsvollsten Kongresse der linken Bewegungen in Deutschland ins Leben riefen, sind Küster und seine Mitorganisatoren noch heute stolz. Es waren die richtigen Worte zur rechten Zeit, sagt Küster. „Die Stimmung in der Szene war damals auf dem Nullpunkt.“ Die RAF-Attentate hatten zu mehr Repression und Konformitätsdruck geführt. Die K-Gruppen an den Hochschulen waren in der Sinnkrise. Und die Spontis? Hingen depressiv in Kneipen herum oder spielten Fußball.

Jeden Samstag um 13 Uhr kickten Küster und seine „Freaks“ – hinter der Kongresshalle im Tiergarten. Anschließend ging es ins „Ambrosius“. Hier entstand im Dezember 1977 die Idee zum Tunix-Kongress. Es sollte ein Abschied sein, sagt Küster, ein rauschendes Fest der Utopien, die man anschließend zu Grabe tragen wollte. Der Name Tunix entsprach dem Lebensgefühl vieler Studenten, für die Arbeit ein Synonym für Freiheitsberaubung war.

Nachdem der Aufruf fertig war, den linken Kleinstverlagen zum freundlichen Abdruck übergeben, gingen die Freaks in den Weihnachtsurlaub, zwei Wochen Hütte in Südschweden. „Wir wussten ja nicht, ob überhaupt jemand kommen würde.“

Anfang Januar waren sie zurück in Berlin und leicht erschrocken. Die Anmeldungen gingen in die Tausende. Nur noch drei Wochen Zeit, um Räume zu organisieren, prominente Redner einzuladen und ein Kulturprogramm auf die Beine zu stellen. Das war richtig Stress für die Langzeitstudenten.

Michel Foucault, der linke Philosoph aus Frankreich, reiste an, Christian Ströbele, Günter Wallraff und Peter Glotz, damals Berliner Wissenschaftssenator, waren dabei. Und noch rund 20.000 andere aus Deutschland, Frankreich und Italien kamen zu dem Kongress vom 27. bis 29. Januar 1978. Es gab Arbeitsgruppen zum Thema „Knast und Vernichtung“, „Atomstaat BRD“ und ein „Treffen alternativer Zeitungsmacher“. Die stellten ihr wichtigstes Projekt vor: Die „taz“. Auch die Idee einer linken Ökopartei mit dem Arbeitstitel „Die Grünen“ wurde besprochen.

Für viele Akteure aus der Provinz war Tunix Abenteuer, ein „kleines Woodstock“, erinnert sich die Journalistin Ute Scheub in der „taz“. Die Nächte wurden im Schlafsack-Kollektiv in WGs verbracht. Mit Farbeimern zogen kleine Trupps zur Stadtverschönerung aus. Auf der Abschlussdemo skandierte die Menge Dadasprüche wie „Solidarität mit dem Azorenhoch“.

Tunix war nicht das Signal, aus dem ungeliebten Staat BRD auszureisen, sondern sich darin seine eigene Welt zu schaffen. „Die Botschaft war: Hilf dir selbst“, sagt Küster. Kritiker warfen den Teilnehmern vor, linken Hedonismus zu predigen und die unterdrückte Arbeiterklasse im Stich zu lassen.

Knapp 30 Jahre nach dem Kongress ist Tunix wieder aktuell. Die „digitale Boheme“ hat parallele Gedanken entdeckt. „Wir sind eher zufällig darauf gestoßen“, sagt Publizist und Blogger Holm Friebe. „Es gab damals ein diffuses Unbehagen über die Lebensperspektiven einer Generation.“ Dieses Unbehagen können freischaffende Autoren gut nachempfinden. Friebe arbeitet am Konzept einer „Kooperative“ zur gegenseitigen Arbeitserleichterung.

Nach dem Kongress spielte man weiter Fußball und bastelte am eigenen Studienabschluss. Küster arbeitet seit den 80er Jahren als Fernsehproduzent und -Regisseur, dreht Serien für Sat1. In einem frühen Küster-Film spielt auch Joschka Fischer mit, als Taxifahrer, der drei „Freaks“ beim Überfall auf einen Geldtransporter beobachtet. Man weiß nicht genau, auf welcher Seite Joschka steht.

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