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Berlin: Stadtrohrpost: Die kleine U-Bahn von Berlin

Ein grauer Morgen im Berlin der zwanziger Jahre. Die Sekretärin fröstelt.

Ein grauer Morgen im Berlin der zwanziger Jahre. Die Sekretärin fröstelt. Jetzt wäre ein heißer Tee das Richtige, aber die Dose ist leer. Ob die Kollegin im dritten Stock noch welchen hat? Sie geht zur Rohrpostanlage, packt ein Zettelchen mit der Anfrage in die Kapsel und schickt sie ab. Kurz darauf ist der Tee da, mit einem netten Gruß von oben.

So hat es sich damals oft abgespielt, als dieses Nachrichtenmittel noch eine wichtige Rolle spielte - zunächst hausintern bei Firmen, Ministerien, Presse, doch bald schon auch mit einem öffentlichen System, über das die Städter Briefe verschickten. Für hundert Jahre, von 1876 bis 1976, gehörte die "kleine U-Bahn" zum Berliner Alltag.

Ihren Ursprung hatte die Rohrpost in der industriellen Revolution. 1859 machten die britischen Ingenieure Latimer Clark und Thomas W. Rammell die ersten Versuche. Im Meyers Konversationslexikon aus dem Jahr 1900 steht, wie die ersten Rohrpostanlagen aussahen: "Zur Aufnahme von Sendungen dienen 15 cm lange Büchsen aus Stahlblech; sie können je etwa 20 Sendungen aufnehmen; 10-20 Büchsen hintereinander gelegt, bilden einen Zug." Zuerst per Druckluft von der Absenderstation, dann per Saugluft von der Empfängerstation schossen diese "Frachtgüter-Züge" ihrem Ziel entgegen - mit bis zu 60 Stundenkilometern.

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Während in London, Paris, Wien und New York schon bald mit der Erfindung gearbeitet wurde, nahm die Königlich Preußische Telegraphendirektion ihre Stadtrohrpost erst 1876 in Betrieb, schreibt der Berliner Historiker Ingmar Arnold in seinem unlängst erschienenen Buch "Luft-Züge. Die Geschichte der Rohrpost in Berlin und anderswo" (Verlag GVE, Berlin 2000). Gleichsam als Test entstanden zunächst nicht-öffentliche Anlagen. Die erste Berliner Rohrpost verband die Börse in der Burgstraße nahe dem Hackeschen Markt mit den Kontoren der am Handel beteiligten Firmen. Bis dato hatte man die neuesten Kursverläufe per Telegramm verschickt. Das dauerte den ungeduldigen Kaufleuten oft zu lange, und so baute 1865 Werner von Siemens die "pneumatische Abkürzung" zwischen dem Haupttelegraphenamt in der Französischen Straße und der Börse. Sendungen, die in der pneumatischen Station der Börse einliefen, machten sich mit einem lauten Klingeln bemerkbar - nur eine einzige, sensationelle Minute nach der Absendung! Und schon eilten Telegrammboten mit der "Rohrbomben"-Fracht los.

Bismarck war entzückt

Die Berliner lernten die Rohrpost erst in den blühenden Gründerjahren richtig kennen, als Wilhelm I. Kaiser wurde und Berlin Hauptstadt des Deutschen Reiches. Otto von Bismarck, preußischer Ministerpräsident und Reichskanzler, war entzückt von der neuen Post-Mode. Er setzte eine Expertenkommission ein, die den Bau eines Radialsystems vorantrieb. Sternförmig wurden die Büchsen von der Zentrale aus verschossen. Bald gab es 15 Rohrpostämter und vier Maschinenhäuser, in denen am 1. Dezember 1876 die neu ernannten Rohrpostbeamten ihre Arbeit aufnahmen. Berliner, die per Rohrpost einen Brief verschicken wollten, bezahlten hier 30 Pfennig, für Postkarten 25 Pfennig. Das war billig gegenüber dem Telegramm, das für 10 Worte 50 Pfennig kostete und für jedes weitere Wort fünf Pfennige.

Natürlich waren für diese Art des Briefverkehrs weit weniger Beamte nötig als bei der herkömmlichen. Die Rationalisierung veranlasste manchen Briefträger zu bösen Briefen an den General-Postdirektor Heinrich von Stephan. Er habe einen "großen niederträchtigen Act der Gemeinheit begangen", schrieb einer, der fürchtete, um sein "bisgen Verdienst" gebracht zu werden. "Nur Ihre hohe Stellung schützt Sie vor Insulten, sonst müßte man Sie, wie es jeder Schweinehund von Ihrer Sorte verdient, tüchtig dafür abklopfen."

Doch der "Schweinehund" setzte sich durch: 1906 lagen schon 125 Kilometer Rohr; die Post erwirtschaftete mit der Blitz-Zustellung rund 1,1 Millionen Reichsmark. Zu den Fernbahnhöfen, zum Reichstag und von 1925 an zum Flughafen Tempelhof führten Direktleitungen. Aber auch Geschäftsleute ließen Anlagen einbauen. Der hauseigene Rohrpostler des Kaufhauses Wertheim war eine Attraktion und arbeitete im Schaufenster, wie sich die 70-jährige Thessi Aselmeier erinnert. Als kleines Mädchen hatte sie fasziniert dem Prasseln, Klacken und Zischen gelauscht, das durch die Glasscheibe nach außen drang, wenn die Büchsen aus den Rohren schossen oder wieder hineingesogen wurden. "Der Mann nahm Zettel heraus, rollte sie locker in der Hand zusammen und steckte sie in eine neue Patrone", erzählt die alte Dame. "Diesem Mysterium zuzuschauen, war schöner, als im Erfrischungsraum ein Eis zu essen."

Wie alle technischen Neuheiten, wurde auch die Rohrpost schnell zum Lieblings-Spielzeug für Reiche. Die kleine Schicht derer, die sich in den 20er Jahren dekadente Vergnügungen leisten konnten, amüsierte sich im Residenz-Casino an der Blumenstraße 10 in Mitte. Hier orderten sie per Rohrpost Champagner, verabredeten Rendezvous oder bestellten Luxusartikel vom Hausversand: Lippenstifte in goldenen Hülsen für die Damen, Zigarrenabschneider aus Neusilber für die Herren. Mit Anbruch der Nazi-Zeit nahm die Rohrpost noch einmal einen Aufschwung: 1939 gab es 90 Ämter, die rund acht Millionen Sendungen weiter beförderten. 1944 waren es sogar 25 Millionen Sendungen, vor allem, weil das Militär der Abhörsicherheit des Systems vertraute. Über 400 Kilometer Rohr lagen nun unter der Hauptstadt. Hunderte neuer Anschlüsse in Partei-Zentralen und Ministerien wurden gelegt, berichtet Berlins zweiter Experte in Sachen Rohrpost, der Sammlungsleiter des Museums für Kommunikation, Wolfgang Wengel. Doch soll es noch zusätzliche, geheime Verbindungen gegeben haben. Etwa zwischen dem Propaganda-Ministerium am Wilhelmplatz und dem sogenannten Forschungsamt, einer Art Geheimdienst mit Sitz an der Behrenstraße.

Jetzt war das Telefon schneller

Doch da nahte das Ende der Berliner Rohrpost schon: Die britischen und amerikanischen Bomber zerstörten das dichte Netz fast völlig. Bald darauf bewirkte die politische Spaltung der Stadt auch die postalische, und die Alliierten beobachteten das schwer zu kontrollierende Kommunikationsmittel misstrauisch. Erst im Februar 1949 wurde in Ost-Berlin der Rohrpostverkehr wieder aufgenommen, im Westen im Dezember 1951. In West wie Ost wurden jetzt zwar viele Strecken modernisiert, aber immer weniger Privatleute nutzten die Rohrpost. "Vor allem im Westen waren Verabredungen und Nachrichten über das Telefon ja nun viel schneller auszutauschen", erzählt der 70-jährige Kurt Roth, 35 Jahre lang Direktor des West-Berliner Post- und Fernmeldemuseums. Außerdem seien die Kapseln bald zu klein geworden für die riesigen Postberge der Wirtschaftswunderzeit. "In jede gingen ja nur 20 Briefe." Am 3. Januar 1971 fiel der Beschluß, die West-Berliner Rohrpost aufzugeben. Im Osten fuhr die letzte Sendung 1976.

Nach wie vor gibt es Berlin funktionierende Haus-Rohrpostanlagen: in der Staatsbibliothek oder im Klinikum Buch. Die Überreste der Stadtrohrpost dagegen werden "achtlos aus dem Boden gerupft", beklagt Historiker Ingmar Arnold. Nur im alten Haupttelegraphenamt an der Oranienburger Straße steht im Keller noch die gesamte, rund 80 Jahre alte Ausstattung. Allerdings hat die Telekom das Gebäude am 1. Februar verkauft, an den Immobilienmakler Ernst Freiberger, der bereits die historische Humboldt-Mühle in Tegel und die Bollesche Meierei in Tiergarten kaufte und sanierte - mit unterschiedlichem Echo bei der Denkmalpflege. Was aus den letzten Resten der Stadt-Rohrpost wird? Noch ist es unklar.

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