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Berlin: Stahl, Glas und ein Kanzler aus Pappe

„Lohnt sich, reinzugehen“, riefen Fans von Schalke 04 in blauweißen Trikots gestern Mittag Passanten an der Dorotheenstraße zu und wiesen auf einen unscheinbaren Eingang. „Nur reinmarschiert, die machen sich alles vom Feinsten!

„Lohnt sich, reinzugehen“, riefen Fans von Schalke 04 in blauweißen Trikots gestern Mittag Passanten an der Dorotheenstraße zu und wiesen auf einen unscheinbaren Eingang. „Nur reinmarschiert, die machen sich alles vom Feinsten!“ Das „die“ klang frech und meinte die Bundestagsabgeordneten. Das Parlament hat das Volk zur Besichtigung seiner Bauten eingeladen und muss mit Kommentaren dieser Art rechnen. Wer aber glaubte, durch den Eingang nicht nur schneller ins Jakob-Kaiser-Haus zu kommen, sondern für den großen Rundgang die lange Schlange vorm weiter entfernten Paul-Löbe-Haus oder dem Reichstag zu umschiffen, landete in einer Sackgasse. Obwohl unterirdisch verbunden, war die große Tour nur aus westlicher Richtung, also vom Reichstag oder vom Paul-Löbe-Haus möglich. Heerscharen von Aufsichtspersonal wachten hinter schwarz-rot-goldenen Kordeln, dass die vorgeschriebenen Wege auch eingehalten wurden, nur kein Büro oder Sitzungssaal einzusehen war. Gerade Touristen, gut die Hälfte aller Besucher, waren verwirrt, wenn sie plötzlich nach dem verordneten Ausgang an der Wilhelmstraße standen, wo sie nicht hinwollten, weil sie die Kuppel zum Ziel hatten. So gab es verzweifelte Blicke in Lagepläne, doch alles half nichts: Man musste wieder hundert Meter um Häuserblöcke laufen und sich erneut anstellen. Auch heute noch wird es vielen so gehen, von 10 Uhr bis Mitternacht ist geöffnet.

Fast 25 000 Besucher hatten sich seit Freitagnachmittag bis zum gestrigen frühen Abend auf Besichtigungstour gemacht. Einer von ihnen war Erhard Otto aus Rathenow. Gut eine Viertelstunde hatte er am Sonnabendvormittag vorm Eingang warten müssen, bis er in der großen Halle des Paul-Löbe-Hauses stand. Dort konnten die Besucher Polit-Prominenz erkennen. Gleich rechts hinterm Portal standen Gerhard Schröder und SPD-Fraktionschef Peter Struck, allerdings nur als Pappkameraden, aber in Originalgröße. Dazu verteilten die Sozialdemokraten an ihrem Stand Kugelschreiber und Feuerzeuge. Links gegenüber war für die CDU der leibhaftige Politiker Günter Nooke zu sehen, weiter hinten rechts schälten die Bündnisgrünen Äpfel und fragten ins Publikum, welcher Apfel wohl aus ökologischem Anbau stamme. Die FDP hatte Papptafeln bemalt, auf denen sie einen Erlebnistag mit dem Guidomobil versprach. Die PDS lud zum Schach und verteilte rote Lutscher.

Mit fast andächtiger Ruhe absolvierten die Besucher die Wege, schlenderten lange Gänge entlang. Alles sei sehr technisch, gläsern, stählern und kalt, ,,sehr vornehm und wohl auch sehr teuer, sagten die Leute. Und Erhard Otto aus Rathenow meinte, er könne sich zwischen den Gängen nicht zurechtfinden. Und den Abgeordneten gehe es wohl genauso.Christian van Lessen

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