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Echte Berlinerin. Marianne Birthler wurde in Friedrichshain geboren und lebt heute in Mitte. Nächsten Monat gibt sie die Leitung der Stasi-Unterlagenbehörde ab.

© Doris Spiekermann-Klaas

Stasi-Aufarbeitung: Marianne Birthler: "Geschichtslügen entgegentreten"

Marianne Birthler übergibt ihr Amt als Behördenchefin nach 13 Jahren ihrem Nachfolger Roland Jahn. Die 63-Jährige ist überzeugt, dass die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen längst nicht abgeschlossen ist.

Von Sabine Beikler

Biotope mag sie. Oft erwähnt Marianne Birthler das Wort „Biotope“, also Lebensräume dort vorkommender Gemeinschaften. Als junges Mädchen hatte sie in Ost-Berlin in einem „Biotop“, einer Freundesclique gelebt, wie sie einmal erzählte. Die gebürtige Friedrichshainerin kennt viele Biotope in Berlin. „In einigen Bezirken gibt es noch typische DDR-Biotope genauso wie es im anderen Teil Berlins alteingesessene West-Berliner gibt, die jedem Klischee entsprechen“, sagt sie. Bis auf ein paar Jahre Leben auf dem Land bei Schwedt wohnt sie seit ihrer Geburt in Berlin. Die Chefin der Stasi-Unterlagen-Behörde, die Mitte März das Amt an ihren Nachfolger Roland Jahn übergibt, hat die Brüche, den Aufbruch und die Wende in der Stadt hautnah erlebt. Heute wohnt sie in der Nähe der Bernauer Straße. Immer wieder gehe sie „mit Genugtuung über den Streifen, auf dem früher mal die Mauer stand“, sagt sie.

Nach der Wende arbeitete Marianne Birthler als Vertreterin der Initiative Frieden und Menschenrechte am zentralen „Runden Tisch“ mit und gehörte 1990 als Fraktionssprecherin der Fraktion Bündnis 90 der Volkskammer an, später war sie Fraktionssprecherin im Bundestag in Bonn. Als Mitglied der bisher einzigen Ampelkoalition in Ostdeutschland wurde sie Anfang der 90er Jahre Bildungsministerin in Brandenburg. Sie trat im Zusammenhang mit dem Streit um Stasi-Vorwürfe gegen den damaligen SPD-Regierungschef Manfred Stolpe zurück. „Ausflüchte, zweifelhafte Erklärungsmuster, verspätete oder halbherzige Eingeständnisse“ durch stillschweigende Billigung mitzuverantworten, sei sie nicht mehr bereit, sagte sie damals.

Das gilt heute noch für Marianne Birthler. Ende 2000 wurde sie Chefin der Stasi-Unterlagen-Behörde und hat seitdem harte politische Kämpfe ausgefochten, wie mit Otto Schily, SPD-Bundesinnenminister unter Rot-Grün, über die Herausgabe von Dokumenten bei Politikern, Amtsträgern oder Personen der Zeitgeschichte. Die gerichtlichen Auseinandersetzungen um die Gewichtung von Datenschutz und Aktenveröffentlichung bei Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) verlor ihre Behörde.

Sie ist heute noch froh, dass es ein Stasi-Unterlagen-Gesetz gibt, das „die jeweiligen Bundesbeauftragten unabhängig von den Interessen oder Launen einzelner Politiker macht“. Marianne Birthler hat stets den Anspruch verfolgt, auch die Stasiaktivitäten im einstigen Westen aufzudecken. „Die Stasi hat nicht nur im Osten agiert. Es gab auch tausende Bundesbürger, die im Dienst der Stasi waren“, betont die Grünen-Politikerin.

Blumen vom Vorgänger. Im Jahr 2006 wurde Marianne Birthler als Chefin der Stasi-Unterlagenbehörde wiedergewählt. Joachim Gauck gratulierte.
Blumen vom Vorgänger. Im Jahr 2006 wurde Marianne Birthler als Chefin der Stasi-Unterlagenbehörde wiedergewählt. Joachim Gauck gratulierte.

© dapd

Vehement setzt sie sich für die weitere Aufarbeitung ein. Am Mittwoch beschloss das Bundeskabinett, Überprüfungen im öffentlichen Dienst auf eine frühere Stasi-Mitarbeit bis 2019 zu verlängern. „Ohne unsere Arbeit wäre es schwerer, den Geschichtslügen der ehemaligen Täter faktengestützt entgegenzutreten“, sagt Marianne Birthler. Mehr als 87 000 Anträge auf persönliche Akteneinsicht gingen 2010 bei der Behörde ein, eine Abwärtskurve ist nicht in Sicht.

Auch für die einst geteilte Stadt Berlin gehört die Aufarbeitung zur Stadtgeschichte: Fluchtversuche, die die Stasi zu vertuschen versucht hatte, persönliche Biografien, die durch jähe Brüche zerschnitten wurden, Trennungsgeschichten zwischen Ost und West. „Die Konfrontation mit der eigenen Geschichte durch die Stasi-Unterlagen ist für manch einen schwer und oft auch mit Enttäuschungen verbunden. Aber erst, wenn man die Wahrheit kennt, kann man Unrecht und Verletzungen vielleicht hinter sich lassen und wieder Vertrauen in das Leben fassen“, sagt die Behördenchefin.

Mitte März übergibt sie das Amt an ihren Nachfolger Roland Jahn. Dann will sie die neue Freizeit in der Stadt genießen, mit dem Fahrrad Gegenden erkunden und das Kulturangebot wahrnehmen. Marianne Birthler fühlt sich wohl in Berlin. „Hier ist das pralle Leben, hier ist mein Zuhause.“ Und Berlin, das sei auch eine „Stadt für Faule“, lacht sie. Hier könne man getrost am Abend auf dem Sofa sitzen bleiben und darüber sinnieren, was man unternehmen könnte. Denn das breite Angebot sei ja auch am nächsten Tag noch da.

Ob sie sich in dem für die Grünen wichtigen Wahljahr als eine der wenigen „Bündnisgrünen“ in Berlin wieder aktiv in die Politik einmischen wird, weiß sie noch nicht. „Ich bin durch nichts verpflichtet, den Luxus kann ich mir leisten.“ Um das Verhältnis der ostdeutschen Bündnis-Leute mit den fusionierten Grünen zu skizzieren, zitiert sie ihren Parteifreund und guten Freund Werner Schulz, der heute Europaabgeordneter ist. „Mit Bündnis 90 und den Grünen ist es wie mit dem Stück Zucker und dem Tee: Das Stück Zucker ist weg, aber der Tee schmeckt besser“, sagt sie und lacht.

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