zum Hauptinhalt
Kältebus-Fahrer Matthias Spreemann und Mitarbeiterin Annike Ciupka vor dem neuen Kältebus.

© Jan-Erik Nord/Stadtmission

Stationen einer Nacht: Mit dem Kältebus der Stadtmission durch Berlin

Der Tagesspiegel hat der Berliner Stadtmission einen neuen Kältebus gespendet. Auf Tour mit dem Team.

Bei der 29. Aktion „Menschen helfen!“ bittet der Tagesspiegel um Spenden für 42 mildtätige und gemeinnützige soziale Träger. Die Berliner Stadtmission kann dank der vergangenen Spendenaktion einen neuen, behindertengerechten Kältebus auf die Straße schicken. Wir waren auf Premiere-Nachttour am Tag der Busübergabe.

„Am traurigsten finde ich es, wenn wir auf Rollstuhlfahrer treffen und sie nicht mitnehmen können, weil die eine Notunterkunft in Berlin, die es für sie gibt, schon voll ist“, sagt Annike Ciupka, 20. Die Studentin ist in der ersten Saison ehrenamtlich mit dabei und fährt immer Montagnacht zusammen mit Matthias Spreemann, 54, im Kältebus durch Berlin.

Dreimal die Woche fährt er den Bus und macht den Rest der Zeit „die bürokratischen Sachen“, wie er es ausdrückt. Obwohl schon lange dabei, ist auch für den einzigen Hauptamtlichen im Kältebusteam draußen heute eine Premiere, im speziell ausgebauten Fahrzeug, finanziert dank 64.939,27 Euro Spenden der Tagesspiegel-Leser:innen durch die Aktion „Menschen helfen!“ 2020/21.

20.20 Uhr, Lehrter Straße. Es geht los. Ciupka schaut auf den Einsatzplan im Tablet, wir fahren Richtung Tempelhof. Doch der Mensch, der abgeholt werden soll, ist nirgends zu sehen. „Das passiert oft“, sagt Matthias Spreemann. „Da rufen Passant:innen an, die denken, der Mensch muss unbedingt in eine Notunterkunft, aber der- oder diejenige möchte gar nicht und ist weg, wenn wir ankommen“.

Deshalb solle man immer fragen, ob die Personen auch wirklich den Kältebus möchten. „Das ist ja auch ihr gutes Recht, wir wollen niemanden zwingen, einzusteigen“, sagt Spreemann.

"Die meisten Obdachlosen, die wir treffen, sind bereits geimpft und sogar geboostert" – Annike Ciupka, Ehrenamtliche beim Kältebus

Viele Menschen ohne Obdach haben Angst, dass ihnen in den Unterkünften etwas gestohlen wird. Für andere sei es schwierig, dass in den Unterkünften Drogen verboten sind. Und seit der Corona-Pandemie befürchten nicht wenige, sich dort anzustecken. „Dabei sind die meisten Obdachlosen, die wir treffen, bereits geimpft und sogar geboostert“, sagt Ciupka. „Mittlerweile gibt es viele Angebote, sei es in den Notunterkünften, im Krankenhaus oder in einem Impfmobil und durch genügend Werbung wissen fast alle davon.“ Zudem werde jede:r vor Betreten einer Unterkunft getestet.

Mit dem Kältebus eine Nacht lang durch die Hauptstadt, um hilfsbedürftigen Menschen zu helfen.
Mit dem Kältebus eine Nacht lang durch die Hauptstadt, um hilfsbedürftigen Menschen zu helfen.

© Jan-Erik Nord/Stadtmission

20.40 Uhr: Wir treffen auf eine Frau und zwei Männer, die ihre Sachen zusammenpacken. Tee, was zu essen? Sie lehnen dankend ab. „Wir werden hier gut versorgt“, sagt die Frau. So gut sogar, dass sie uns fragt, ob wir einen Schlafsack haben wollen. Verdutzt hakt Ciupka nach, und die Frau bejaht. Sie habe einen zu viel, und vielleicht brauche wer anders ja einen. Na dann gern. „So was hatte ich auch noch nie“, meint Spreemann.

20.45 Uhr. Zurück im Auto der Blick aufs Kältebustablet. Hier werden die Anrufe aufgelistet, die in der Zentrale eingegangen sind. Farben zeigen, welche Priorität sie haben – grün: gering, orange heißt mittel und rot: sehr dringend. Wo befinden sich die Menschen und in welchem Zustand? Anhand dieser Informationen kann Spreemann eine Route festlegen, er kennt sich als früherer Fahrlehrer und Busfahrer sehr gut aus in der Stadt. Heute ist die Auftragsliste eher kurz. „Das liegt am Wetter, da es über null Grad sind.“ Und am Wochentag.

Bis zu 100 Anrufe können in kalten Nächten eingehen

Montags rufen immer nur wenige Menschen an, meist so um die 15. Am Wochenende und wenn es sehr kalt ist, gehen dagegen bis zu 100 Anrufe pro Nacht ein. „Die können wir leider nicht alle annehmen und die Notunterkünfte sind auch sehr schnell voll“, erzählt Spreemann. Insgesamt schickt die Stadtmission in dieser Wintersaison abends drei Kältebusse und einmal pro Woche die Straßenambulanz durch die nächtliche Hauptstadt.

2020 wurde in Berlin zum ersten Mal gezählt, wie viele obdachlose Menschen es gibt. 1976 ergab die Zählung, die Stadtmission geht von deutlich mehr aus. In jedem Fall gebe es nicht genug Plätze, auch weil coronabedingt in den großen Notunterkünften nur noch 80 oder 60 Menschen aufgenommen werden könnten.

Kältebus-Mitarbeiterin Annike Ciupka (links im Bild) bei der Arbeit.
Kältebus-Mitarbeiterin Annike Ciupka (links im Bild) bei der Arbeit.

© Jan-Erik Nord/Stadtmission

21.10 Uhr. Wie aufs Stichwort eine Nachricht von der Zentrale: Eine Mutter mit ihrer dreijährigen Tochter weiß nicht, wo sie hin soll. Die zwei Familiennotunterkünfte in Berlin sind voll, die Frauenunterkunft hat einen positiven Coronafall und in einer regulären Unterkunft wird sie mit einem minderjährigen Kind nicht aufgenommen. Nach vielen Telefonaten macht die Notunterkunft „Die Pumpe“ eine Ausnahme.

„Die haben gedroht mich anzuzünden, wenn ich nicht verschwinde“ – Paul, ein obdachloser Mann am Alexanderplatz

21.30 Uhr. Es gibt keinen akuten Auftrag und wir fahren zu Plätzen, wo immer obdachlose Menschen zu finden sind, um Tee oder Suppe anzubieten. „Das sind zum Beispiel der Alexanderplatz, der Ostbahnhof, der Zoo und noch einige mehr“, zählt Spreemann auf. Tatsächlich treffen wir am Alex auf eine Gruppe von vier jungen Männern unter der S-Bahnbrücke. Gegessen haben sie schon, aber zwei Schlafsäcke wären klasse. Denn dem einen, Paul, sei sein Zelt und sein Schlafsack von einer anderen Gruppe Obdachloser geklaut worden. „Die haben gedroht mich anzuzünden, wenn ich nicht verschwinde“, sagt Paul. Jetzt ist sein Lager weg. Für heute Nacht könne er zwar bei einem Kumpel schlafen. Als er erfährt, dass die Notunterkünfte noch bis zum 31. März offen haben, lächelt er erleichtert. Aber um 8 Uhr morgens machen die Notunterkünfte schon wieder zu.

Die Ehrenamtliche Annike Ciupka reicht einem obdachlosen Mann Suppe und Tee.
Die Ehrenamtliche Annike Ciupka reicht einem obdachlosen Mann Suppe und Tee.

© Jan-Erik Nord/Stadtmission

22.00 Uhr. Als wir gerade wieder losfahren wollen, winkt uns eine Frau. Sie weiß um einen obdachlosen Mann um die Ecke, er sei nicht warm genug angezogen. Ein paar Straßen weiter liegt er in einem Hauseingang, mit einer dünnen Decke und einem Regenschirm. Er spricht nur sehr brüchiges Deutsch, er kommt aus Russland, doch die Wörter Tee, Suppe und Schlafsack versteht er und nickt zu allem. Im Bus schnell die Fertigsuppe aufgewärmt; Gulaschtopf, Tee, und es gibt dazu einen Schlafsack.

Allein in Berlin. Ohne Geld, Handy oder Pass

22.15 Uhr. In der Nähe der Humboldt Universität hat eine Gruppe Student:innen einen Mann getroffen, der sie bat, Hilfe zu holen. Der 29-jährige Carlos Magregoras kommt aus Litauen. Seit einem Monat ist er in Berlin. Er möchte gerne wieder zurück, doch er habe kein Geld, kein Handy und sein Pass sei weg, erzählt er im Auto in Bruchteilen aus Englisch und Deutsch. Alles, was er bei sich trägt, ist eine McDonald's-Tüte und eine Cola, die ihm die vier Student:innen spendiert haben. Bevor er in den Kältebus steigt, geben wir ihm eine FFP2-Maske, im Bus gilt Maskenpflicht. Los geht es zur City-Station, so muss er nicht wieder in einer U-Bahn schlafen, wie in den vergangenen Wochen.

Matthias Spreemann, 54, bekommt die Informationen, wohin er fahren soll, übers Tablet.
Matthias Spreemann, 54, bekommt die Informationen, wohin er fahren soll, übers Tablet.

© Jan-Erik Nord/Stadtmission

22.35 Uhr. Wir fahren zur Wollankstraße. Am U-Bahnhof wartet Antonio T.. Er hat Hausverbot in mehreren Notunterkünften, weil er versucht hat, Drogen hineinzuschmuggeln. Nun weiß er nicht, wo er hin soll. Einige Telefonate braucht es, bis eine Unterkunft gefunden ist. Im Bus fragt er sofort, ob er auch Schlafsack und Isomatte bekomme, falls er dort wieder rausgeworfen werde. „Entweder Notunterkunft oder Schlafsack, beides geht nicht, denn Schlafsäcke sind teuer und wir haben nicht genug“, erklärt Spreemann die Regeln. Der Kältebus finanziert sich fast ausschließlich aus Spenden.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

23.30 Uhr. Erst Antonio in die Kopenhagener Straße bringen, dann geht es weiter nach Marzahn-Hellersdorf, 41 Kilometer sagt das Navi – fast 50 Minuten Fahrt. Mal gähnt jetzt jemand. Wir schalten uns durch zig Radiosender und erfahren von Spreemann, dass er von April bis Oktober auf seinem Bauernhof in Rumänien lebt und Wein produziert. Annike Ciupka erzählt, dass sie nach dreimonatiger Ausbildung Rettungssanitäterin ist. Auf dem Supermarkt-Parkplatz – niemand.

1.30 Uhr: Letzter Stopp, Virchow-Krankenhaus Wedding, Notaufnahme. „Ach, der Christoph, den kennen wir doch schon“, sagt Spreemann beim Blick auf die Infos im Tablet. Das sei ein Netter, mit orangefarbener Jacke. Nachdem mit den Ärzt:innen alles geklärt ist, Medikamente und Papiere eingesteckt sind, geht es mit Christoph in die Lehrter Straße zur Stadtmission – dorthin, wo die Tour vor sechs Stunden begann.

Kältebus-Telefon: 030 / 69 03 33 690 zwischen 20 und 2 Uhr. Mehr dazu auch in den Storys unter instagram.com/tagesspiegel.

Fanny Oppermann

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false