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Steuerhinterziehung: Nichts zum Angeben

Was ließe sich mit diesem Geld alles finanzieren: Rund 50 Milliarden Euro gehen dem Staat jedes Jahr durch Steuerhinterziehung verloren. Über einen Skandal, der hingenommen wird.

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Etwa 14 Millionen Euro hinterzogene Steuern. Die Wucht der Summe beherrscht einen Moment lang den Raum. Die Richterin blickt erwartungsvoll auf den Angeklagten. Er ist schlank und grauhaarig, trägt einen dunkelgrauen Anzug und ein weißes Hemd. Jetzt fixiert er den Linoleumboden zwischen seinen schwarzen Lederschuhen, er sitzt zusammengesunken auf dem hellen Holzstuhl. „14 Millionen Euro“, wiederholt die Richterin. So viel Geld, in einem einzigen Fall. Einfuhrumsatzsteuern soll der Unternehmer beim Handel mit Benzin und Diesel hinterzogen haben.

Die Beweise seien erdrückend, sagt die Richterin. Mehr als tausend eng bedruckte Tabellen würden die Hinterziehung belegen. Der Mann hatte jahrelang beim Zoll gearbeitet, kennt sich bestens aus mit Einfuhrumsatzsteuern. Deshalb rät die Richterin dem Angeklagten zu gestehen. Deshalb wiederholt sie die Summe, die eine harte Strafe bedeutet: 14 Millionen Euro. Noch hat die Beweisaufnahme nicht begonnen. Legt der Mann ein Geständnis ab, entfallen viele Verhandlungstage – und ihn erwartet eine geringere Strafe.

Als die Stille im Saal fast unerträglich wird, nuschelt er: „Ich dachte, die Schuld liegt bei meinem Vertragspartner.“ Das ist kein Geständnis.

70 000 Steuerstrafverfahren im vergangenen Jahr

Kleine Fische, große Fische – Arbeit machen sie alle. Solche Prozesse finden jeden Tag überall in Deutschland statt. Auch der Wurstfabrikant und Präsident von Bayern München, Uli Hoeneß, ist nur einer von vielen, denen die Steuerfahnder auf die Spur gekommen sind. Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland 4500 Bußgeld- und 70 000 Steuerstrafverfahren bearbeitet, die Steuerhinterzieher wurden zu insgesamt 2340 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Und sie mussten 56,5 Millionen Euro Strafe aufbringen – zusätzlich zur nachgezahlten Steuer. Im Vergleich zu 14 Millionen Euro, die in einem einzigen Fall dem Staat vorenthalten wurden, ist das allerdings nicht viel.

Aber wie viele Bürger, reich oder arm, hinterziehen ungestraft Steuern? Die Dunkelziffer ist hoch. Die Deutsche Steuergewerkschaft schätzt, dass Bund, Ländern und Gemeinden auf diese Weise bis zu 50 Milliarden Euro jährlich verloren gehen. Internationale Konzerne, die steuerrechtliche Lücken ausnutzen, so dass der Staat, auch das ist nur eine grobe Schätzung, an weitere 160 Milliarden Euro nicht herankommt. Jedes Jahr. Damit verstoßen sie nicht einmal gegen Gesetze.

Wenn der Fiskus auch nur an einen Teil dieses Geldes herankäme, wäre die Diskussion zwischen CDU und SPD über Steuererhöhungen auf lange Sicht überflüssig. Jedes Jahr 50 Milliarden Euro Steuern mehr – da hätten Bund und Länder schon seit 2011 keine neuen Schulden mehr machen müssen.

Bestraft wird nur, wer vorsätzlich handelt

Steuerhinterziehung ist ein Verbrechen. Die meisten Menschen, die das tun, sehen sich aber nicht als Verbrecher“, sagt Steueranwalt Jürgen Rädle in seiner Kanzlei in Berlin-Mitte. „Viele Mandanten streiten die Geschehnisse ab, stellen sich unwissend – obwohl sie wussten, was sie taten.“ Jahrelang hat Rädle als Finanzbeamter für die Steuerfahndung gearbeitet, bevor er als Anwalt Steuersünder verteidigte. Er kennt sich aus. „Steuerhinterzieher verdrängen oft ihre Tat und weihen nicht einmal ihren Partner ein.“

Bestraft wird aber nur, wer vorsätzlich handelt. Auch deshalb legen Steuerhinterzieher vor Gericht selten ein Geständnis ab. Eine prominente Ausnahme war der Prozess gegen die ehemaligen Chefs der legendären Paris Bar in Charlottenburg. Beide gestanden, Gehälter und einen Großteil der Ware schwarz bezahlt – und so 1,3 Millionen Euro Umsatzsteuer hinterzogen zu haben. In der Gastronomie sei es üblich, rechtfertigten sie sich, einen Teil der Umsätze nicht anzugeben. 2011 wurden sie, ein mildes Urteil, zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Heute wollen sie nicht mehr über die Steuerhinterziehung sprechen.

„Der ehrliche Steuerzahler ist in Deutschland der Dumme“

In Berlin gibt es rund 50 Steueranwälte, aber ihre Mandanten bleiben lieber unerkannt im Hintergrund. Öffentlich über ihre Fehltritte und Motive reden? Nein. Das gilt auch für den Angeklagten im dunkelgrauen Anzug. Er schweigt.

Sein Prozess ist nur einer von zehn Verhandlungen zu Steuerhinterziehungen in dieser Oktoberwoche in Berlin. Vor dem Amtsgericht steht eine Frau, weil sie im Internet im großen Stil Kleidung verkaufte, ohne ein Gewerbe anzumelden. Ohne Einkommens- und Umsatzsteuer zu zahlen also. Und vor dem Strafgericht muss sich ein Berliner Goldhändler verantworten, der eine Briefkastenfirma im Ausland führte und den Großteil seines Einkommens dorthin auslagerte – ohne es zu versteuern.

Da klingt es ziemlich resigniert, wenn ein Sprecher der Berliner Finanzverwaltung in der Klosterstraße in Mitte sagt: „Solange Steuern erhoben werden, werden auch Steuern hinterzogen.“ Die Dunkelziffer könne allerdings niemand verlässlich bestimmen. „Die Zahlen, die genannt werden, sind Spekulation.“

Alle Bürger sind gleichmäßig zu besteuern

Das sieht Klaus-Dieter Gössel anders. Der Gewerkschaftsmann, Vize-Chef der Bundesfachkommission Steuerverwaltung von Verdi, sitzt im 6. Stock des Finanzamts für Körperschaften I. Ein imposanter Bau nördlich des Messedamms im alten Berliner Westen. Dort werden Kapitalgesellschaften, aber auch Stiftungen und Sportvereine besteuert. Vor Gössel liegen Papiere auf dem Tisch, mit Prüfquoten, einheitlichen Abgrenzungsmerkmalen, Betriebsstatistiken und Gesetzesvorschriften. Gössel, weißhaarig, legeres Sakko und Hemd ohne Krawatte, ein lockerer Typ, aber Finanzbeamter mit ganzer Seele. In seiner Freizeit beschäftigt er sich damit, wie die Nationalsozialisten die Finanzbehörden nach ihrem Weltbild formten, gelegentlich hält er auch Vorträge darüber. Aber hier und jetzt geht es nur ums Geld.

„Der ehrliche Steuerzahler ist in Deutschland der Dumme“, sagt er. Die gesetzliche Vorgabe, dass alle Bürger gleichmäßig zu besteuern sind, werde nicht erfüllt. „Kleinstbetriebe, um ein Beispiel zu nennen, müssen in Berlin nur alle 144 Jahre mit einer Steuerprüfung rechnen.“ Beim jüngsten Treffen der Finanzamts-Vorstände wurde auch diese Zahl genannt. In anderen Ländern sieht es nicht viel besser aus. Kleinstbetriebe sind Unternehmen, die jährlich weniger als 170 000 Euro Umsatz machen oder weniger als 36 000 zu versteuernden Gewinn. Doch in der Summe ist das nicht zu unterschätzen. Bei solchen Prüfungen sei immer viel zu holen, bestätigt ein Finanzbeamter aus Prenzlauer Berg, wo der kleine Mittelstand boomt. Jede Steuerprüfung bei kleinen Krautern bringt dem Berliner Fiskus 14 000 Euro. Im Bundesdurchschnitt sogar 16 500 Euro.

Bundesweit 1900 Spezialisten

Bei einem Großbetrieb, der alle vier Jahre geprüft wird, sind in der Regel mehr als eine halbe Million Euro zu holen. Gössel ist der Meinung, dass Einkommens- Millionäre wie Großbetriebe behandelt werden sollten. Da wäre einiges drin. „Was meine Kollegen von der Steuerfahndung besonders aufregt, das ist die kriminelle Energie von Leuten, die eigentlich genug Geld haben“, sagt er. Die hätten sich ohne Skrupel aus dem Gemeinwesen verabschiedet, das sei regelrecht „asozial“. Durch die Welle von Selbstanzeigen wohlhabender Steuerhinterzieher fühlt er sich in seiner Einschätzung bestätigt. „Seit der Sache mit Hoeneß sind die Selbstanzeigen noch einmal sprunghaft gestiegen, vor allem in Baden-Württemberg.“

Ein großes Problem sind sogenannte Karussellgeschäfte, bei denen mit Hilfe von Scheinfirmen, nach einem kaum durchschaubaren System Waren und Geld hin- und her geschoben werden. Mit dem lukrativen Ziel, die Umsatzsteuer zu hinterziehen. Bis das Finanzamt dem Betrug auf die Schliche kommt, haben die illegalen Klitschen meistens wieder dichtgemacht. Anwalt Rädle: „Damit lässt sich einfacher als mit allen anderen Verbrechen Geld verdienen.“ Bundesweit sind 1900 Spezialisten unterwegs, die in den 600 Finanzämtern für Sonderprüfungen der Umsatzsteuer zuständig sind und im vergangenen Jahr 2,3 Milliarden Euro eintrieben. Das sind 1,2 Millionen Euro je Prüfer.

Spürsinn zahlt sich für die Beamten nicht aus

Das hört sich gut an. Aber: Den Finanzämtern fehlt an allen Ecken Personal. Nimmt man die amtliche Personalbedarfsrechnung ernst, müssten bundesweit 11 000 Stellen, davon 3000 Betriebsprüfer und 600 Fahnder, neu geschaffen werden. Möglicherweise ist dieser Mangel politisch gewollt. Anders ist es kaum zu erklären, dass die bundeseinheitlichen Stellenvorgaben von fast allen Ländern seit Jahren deutlich unterschritten werden. Allen voran Bayern und Baden-Württemberg, Hessen bessert gerade nach. „Vor allem in den reichen Ländern ist die restriktive Personalpolitik zulasten der Finanzämter ein Mittel der Wirtschaftsförderung“, sagt der Chef des Gesamtpersonalrats, Klaus Wilzer. „Und die Bayern sagen intern, dass sie als Geberland im Finanzausgleich nicht die Steuern für arme Länder eintreiben wollen.“

Es gäbe also gute Gründe zum Handeln für eine Bundesfinanzverwaltung, aber die Steuer- und Personalhoheit der Länder überlebte noch jede Föderalismus-Reform. Die Finanzbehörden der Länder haben es bisher nicht einmal geschafft, die Steuerfahndung miteinander zu vernetzen. Sie schotten sich ab. Wenn ein Schwabe nach Berlin umzieht, kommen seine Steuerdaten nicht online mit, sondern werden ausgedruckt, verschickt und neu ins System eingespeist.

Berliner Finanzämter um zehn Prozent unterbesetzt

In Berlin sind die 23 Finanzämter, gemessen an der Bedarfsrechnung, seit der Ära des Finanzsenators Thilo Sarrazin um zehn Prozent unterbesetzt. Daran hat sich unter dem Amtsnachfolger Ulrich Nußbaum nichts geändert. Es fehlen etwa 700 Stellen. Bei der Jahrespersonalversammlung der Berliner Finanzämter sitzt der Senator meistens neben Wilzer, ein umgänglicher Mann, der aber beharrlich den Finger in die Wunde legt. Manchmal auch öffentlich – um prompt vom Finanzsenator angerufen zu werden. Warum Wilzer schon wieder mit Journalisten spreche, will Nußbaum dann wissen. „Sie können doch mit mir über alles reden.“

Aber die Fakten sprechen für sich. Zum fehlenden Personal kommt ein Krankenstand von zehn Prozent. Außerdem bleiben viele Stellen unbesetzt, im laufenden Jahr 143, so viele Beamte hat das gesamte Finanzamt Wedding. Es wird auch immer schwieriger, Nachwuchs zu rekrutieren. „Und es gehen uns gute Leute verloren, weil sie abgeworben werden“, klagt Wilzer. Vom Nachbarland Brandenburg oder vom Bundeszentralamt für Steuern, die zahlen viel besser.

Herausragender Spürsinn zahlt sich für die Beamten nicht aus. Ein EDV-Programm gibt ihnen vor, wie mit einer Steuererklärung umzugehen ist. Für erfahrene Mitarbeiter ist es besonders frustrierend, dass sie Fehlern und Problemen in einer Steuererklärung, die sie entdecken, nicht eigenverantwortlich nachgehen dürfen. Die Maschine entscheidet. Der Bundesrechnungshof hat dieses „Risikomanagement“ schon Anfang 2012 als untauglich eingestuft. Es folgte daraus – nichts.

Steuerfahnder rücken erst bei Verdacht aus

Zunehmend werden erfahrene Außenprüfer von Beamten des Innendienstes ersetzt, der wiederum auszubluten droht. Betriebsprüfung und Steuerfahndung bekommen nur zögernd mehr Personal, obwohl jeder der 15 000 Prüfer in Deutschland das Sechs- bis 15-fache dessen einbringt, was er den Staat kostet. „Allein in Berlin wird wegen fehlender Prüfer und Fahnder jedes Jahr ein hoher dreistelliger Millionenbetrag nicht eingezogen“, rechnet der Steuerexperte Gössler vor.

Die Steuerfahnder rücken erst aus, wenn ein Verdacht auf vorsätzliche Steuerhinterziehung besteht. Unterstützt werden sie dabei vom Zoll, der spezialisiert ist auf Verbrauchssteuern (etwa für Tabak und Alkohol), auf Luftverkehrsteuern (bei jedem Flugticket) und auf die Einfuhrumsatzsteuer (bei Waren aus dem Ausland).

Dass der grauhaarige Mann, der wegen 14 Millionen Euro Steuerhinterziehung in Berlin vor Gericht sitzt, verdächtige Geschäfte machte, bemerkte ebenfalls ein Zollbeamter. Er übergab den Fall der Steuerfahndung in Berlin.

Dieses Mal griff der Fiskus zu.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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