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Stille nach dem Schuss: Bezirk ehrt DDR-Fluchthelfer

In Neukölln wurde der Fluchthelfer Heinz Jercha geehrt. Durch einen Tunnel führte er 55 Menschen aus der DDR in die Freiheit – und zahlte selbst mit dem Leben.

„Ich bin der letzte Überlebende aus dem Tunnel“, sagt Harry Seidel. Und das lastet schwer auf ihm. Der 73-Jährige steht an diesem Dienstagmorgen etwas verloren in einem Neuköllner Keller. Obwohl von dem engen Loch in der Ziegelwand nur noch der Eingang erhalten geblieben ist, scheint Seidel Sicherheitsabstand zu ihm zu halten. Die Erinnerungen an seinen sterbenden Freund Heinz Jercha gehen ihm noch immer nahe.

Mit Freunden hatte sich Seidel im März 1962 aus diesem Keller in der Heidelberger Straße 35, Neukölln, zur gegenüberliegenden Nummer 75, Treptow, durchgegraben – 18 Meter Tunnel unter Straße, Stacheldraht und Betonabsperrung hindurch. Am 22. März kratzten sie fünf Stunden lang den Mörtel aus den Fugen des Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite, um behutsam jeden Stein einzeln aus der Kellerwand zu nehmen. „Es durfte keiner was hören.“ Zwei Tage lang konnten 55 Flüchtlinge durch diesen Tunnel von Ost- nach West-Berlin geholt werden, dann wurden die Fluchthelfer von einem Stasi-IM verraten.

Was daraufhin geschah, daran erinnert seit Dienstag eine bronzene Gedenktafel, die der Verein Berliner Unterwelten und Neuköllns Bezirksstadtrat Thomas Blesing (SPD) enthüllten: Das DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) entschließt sich, Harry Seidel in einen Hinterhalt zu locken. Seidel, ehemaliger Spitzensportler in der DDR, ist seit seiner eigenen Flucht einer der aktivsten Fluchthelfer. Das MfS hat seit Tagen Posten im Hinterhof des Mietshauses versteckt, die den geeigneten Zeitpunkt abpassen sollen. Unter den Augen der Stasi bringen Seidel und sein Kollege Heinz Jercha noch am Nachmittag des 27. März ein älteres Ehepaar in den Westen. Seidel und Jercha waren für die Abholung der DDR-Flüchtlinge zuständig. „Heinz sagte: Immer gehst du zuerst, jetzt lass mich mal“, erzählt Seidel. Also wartet Seidel im Keller, während Jercha sich auf den Weg macht, um die Flüchtlinge zu holen. Dazu muss er an die Wohnungstür eines vermeintlichen Verbündeten in der Heidelberger Straße 75 klopfen. Was er nicht weiß: Der Mann wird bei der Stasi als IM „Naumann“ geführt.

Statt des Spitzels steht an diesem Abend kurz vor 21 Uhr ein Stasi-Leutnant in der Tür, mit Kalaschnikow im Anschlag. Jercha dreht sich um und sprintet zurück Richtung Keller. Zuerst feuert der Leutnant, dann die anderen MfS-Mitarbeiter aus ihren Verstecken im Haus. Heinz Jercha ist schnell und die Schützen schlecht. Doch ein Querschläger trifft ihn von hinten in die Lunge. „Heinz ist noch in Windeseile durch den Tunnel zurückgerobbt“, sagt Seidel, der noch die Tür verbarrikadieren musste und dann nachkam. Als Heinz Jercha im Westen ankommt, bricht er zusammen. Kurz darauf erliegt er seinen Verletzungen. Der Familienvater wurde nur 27 Jahre alt.

Die Stasi-Männer, die auf Heinz Jercha schossen, konnten in den 90er-Jahren anhand von Stasi-Akten ausfindig gemacht werden. Es kam jedoch nicht zur Anklageerhebung, weil anerkannt wurde, dass die Männer eine Festnahme planten, als Jercha unerlaubt das Gebiet der DDR betrat.

Harry Seidel dagegen fiel bei einem weiteren Tunnelbau im November 1962 doch noch der Stasi in die Hände. Er wurde wegen Verstoßes gegen das „Gesetz zum Schutze des Friedens“ zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach vier Jahren Haft wurde er von der Bundesrepublik freigekauft.

Auf der Heidelberger Straße im Sonnenlicht wird nach der Tafelenthüllung gegen 11 Uhr ein Schweigemoment für Jercha abgehalten. Harry Seidel ist dankbar für das Interesse an der Geschichte seines Freundes. Doch die Last, dass der in einem Hinterhalt starb, „der für mich bestimmt war“, wird Seidel bleiben.

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