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stolpersteine

© Thilo Rückeis

Stolpersteine: Ein glänzender Weg

Fast 2000 gibt es in Berlin, Erinnerung an Opfer des Nationalsozialismus, Denkmal von Bürgern für Bürger: Stolpersteine. Ein Kunstprojekt, das wächst und wächst.

Von Susanne Leimstoll

Schon vor acht steht der rote Transporter am Haus Salzburger Straße 8. Früh anfangen, die Tagestour ist kaum zu schaffen. 86 Steine an zwei Tagen, davon 43 in Charlottenburg-Wilmersdorf. „Das machste mir nicht nochmal, mein Lieber!“ Der Mann zieht den Hut tiefer ins Gesicht. Zum Jeanshemd mit Nieten trägt er ein rotes Halstuch, zur derben Hose Knieschützer wie ein Fliesenleger. Er ist barfuß in Sandalen. Der Eingang von Nummer 8 liegt im Schatten, es ist kalt, wird bis mittags so bleiben auf dieser Tour. Gunter Demnig, Jahrgang 1947, scheint das nicht zu spüren. Er holt zwei Eimer mit Werkzeug aus dem Wagen, drinnen glänzt die goldene Fracht. „Nicht vor den Eingang!“, sagt der Beschimpfte, ein alter Herr mit weißem Vollbart, imposante Gestalt. Er spricht das ruhig, er will nicht nerven, das Problem ist sowieso immer dasselbe. „Doch, hör auf! Ich bin Künstler. Ich mach’ diese Scheiße nicht mit“, sagt Demnig. „Wieso nicht vor den Eingang?“, will er vom Anderen noch wissen. „Das ist Schöneberg hier“, antwortet Wolfgang Knoll, sein strenger Begleiter .

Die Sache ist die: Manche Tiefbauämter haben auch acht Jahre nach Beginn des Projektes noch ein Problem damit, dass unebenes Pflaster an einzelnen Stellen und nicht von Amtswegen durch Betonquader, zehn mal zehn Zentimeter, mit polierter Messingoberfläche und Gravur ersetzt wird. Könnte ja jemand ausrutschen. In Schöneberg dürfen sie nicht direkt vor den Hauseingang, in Wilmersdorf muss, wenn mehrere verlegt werden, immer eine Fuge Pflaster dazwischen. 415 dieser behördlichen Problemfälle liegen in Charlottenburg-Wilmersdorf. Exakt 1914 sind es berlinweit, je zirka 400 auch in Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte, nur eine Handvoll etwa in Spandau und Köpenick.

„Stolpersteine“. Der Künstler Gunter Demnig, gebürtiger Berliner, wohnhaft in Köln, hat sie 1995 erfunden. „Ein Projekt, das die Erinnerung an die Vertreibung und Vernichtung der Juden, der Zigeuner, der politisch Verfolgten, der Homosexuellen, der Zeugen Jehovas und der Euthanasieopfer im Nationalsozialismus lebendig hält“, so steht es auf seiner Website. Glänzende Steine, versehen mit Namen und Daten von Opfern der Nazis. Öffentliches Andenken an Tote, die keine Gräber haben. An Menschen, die in Konzentrationslagern ermordet wurden oder während der Deportation zu Tode kamen. Die sich durch Freitod der Massenvernichtung entzogen. Gestiftet von Nachkommen. Oder von Fremden, die erfahren haben, dass in ihrem Haus ein Deportierter gewohnt hat. Es bleibt oft nicht bei einem Stein pro Haus, es werden sechs. Oder 21. Jedes Jahr belegen sie mehr Platz auf Trottoirs, gerade in Berlin. Geschichte verstreut über die Stadt. Ein „Denkmal von unten“.

Der Spurensucher

Wolfgang Knoll hat sich umgeben mit Beweisen für die Verbrechen der Nazis. Bücherregale voller Nachschlagewerke und Literatur über die Judenverfolgung und den Holocaust stellen Wände auf zwei Stockwerken zu. Draußen scheint die Sonne auf das Einfamilienhaus mit Garten in Rudow. Aber der Mann mit dem weißen Bart sitzt am Computer im früheren Jugendzimmer seines Sohnes. Er muss forschen, er kann nicht anders. 72 ist er jetzt, er weiß, wofür er agil bleiben muss: Knoll will ein Gedenkbuch über die jüdischen Bewohner Charlottenburgs verfassen. So etwas gibt es für viele Berliner Bezirke, für Charlottenburg nicht. „Ich muss das zu Ende bringen, solange ich kann.“ Das ist auch eine Frage des Geldes. Knapp 20 000 Euro müssen vorfinanziert werden. Knoll hat einen Förderverein gegründet, Vorsitzender ist Staatssekretär André Schmitz.

Seit 2004 beherrscht Demnigs Projekt Knolls Leben. Als Rentner entdeckte der Freimaurer, dass elf seiner Logenbrüder von den Nazis ermordet worden waren. Elf und sieben Ehefrauen. Er wollte für sie Steine legen lassen, von dem Projekt hatte er gehört. Einen Ansprechpartner für die organisatorische Seite gab es in Charlottenburg-Wilmersdorf nicht. „Da habe ich mich für zuständig erklärt.“ Das Tiefbauamt sah das nicht gerne. Unfallgefahr, Prozessgefahr, am Ende Körperverletzung mit Todesfolge. Es schrieb die Oberflächenbeschaffenheit der Stolpersteine vor und eine Haftpflichtversicherung. Es regelte, wie verlegt werden dürfe: 40 Zentimeter weg von der Hauswand. Der Künstler Demnig bockte irgendwann: „In der Hundepissrinne verlege ich nicht mehr.“ Heute ist das ausgestanden. Knoll wacht über die ordnungsgemäße Verlegung und erstattet Bericht. Die Internetseite des Bezirksamtes nennt ihn als Ansprechpartner.

In einem der Regale steht ein roter Ordner: Vorbestellungen, etwa 200. „Meine Warteliste.“ Die reicht zurück bis zur Mitte des Vorjahres. Wer jetzt bestellt, hat keine Chance auf einen Stein noch in diesem Jahr. Die tägliche Arbeit des Rentners Wolfgang Knoll, früher Stadtvormund im Bezirksamt Wilmersdorf, ist die Recherche. Es melden sich Nachkommen emigrierter Juden oder Anwohner, die sich fragen: Wer hat in diesem Haus gewohnt, wer wurde deportiert? Knoll hat sich die Quellen erarbeitet: Berliner Adressbücher, jüdisches Adressbuch, Bundesgedenkbuch, Gedenkbuch Berlins der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Akribisch haben die Nazis Buch geführt. Ihr „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ vom 30. April 1939 öffnete den Rechtsweg, Menschen ihre Wohnungen zu nehmen, danach ihr Hab und Gut.

Hitlers Architekt Albert Speer ließ für seine Monumentalprojekte in der Hauptstadt „judenreine Gebiete“ schaffen: Ku’damm mit Nebenstraßen, Gelände an der Havel, im Forst Grunewald, in Spandau, Zehlendorf, Wilmersdorf, Charlottenburg, Bayrischen Viertel, Tiergarten, Hansaviertel. Die Opfer wurden zusammengepfercht in „Judenhäusern“, vier, fünf Familien in einer Wohnung. Bei der „Volks-, Berufs- und Betriebszählung“ vom 17. Mai 1939 mussten „Ergänzungskarten“ ausgefüllt werden, Selbstauskünfte. Juden hatten lückenlos ihre Abstammung zu dokumentieren. Die Mitwisser hinterließen Spuren. Banken informieren den Oberfinanzpräsidenten über Guthaben und Depots, der Hausbesitzer beschwert sich, der am 6.4.1942 aus der Wohnung „entfernte“ Jude schulde noch die Miete für April. Und: „Heil Hitler!“ Der Gerichtsvollzieher schätzt das Mobiliar, der Möbelfabrikant zahlt 11 000 Reichsmark, ein Schnäppchen, der Staat gewährt 30 Prozent Abschlag. Die Gestapo schreibt: „Jude am 2.4.42 unter Nr. 12011 evakuiert.“

Nicht alles ist aus den Volkszählungsakten zu ersehen. Wolfgang Knoll leistet Detektivarbeit. Vom Bundesarchiv hat er zwei Dateien gekauft, die nicht nur Namen und Schicksale deportierter Juden enthalten, sondern auch Adressen, 13 000 Datensätze nicht ohne Makel. „Lesefehler, falsche Namen.“ Der Computer wirft die Zweifelsfälle aus. Knoll wühlt sich hinein in Schicksale. Sucht beispielsweise nach Ernst Bromberg und Familie, findet ihn, den Haushaltsvorstand, die Tochter Else, die beiden „arischen Großeltern“. Die nichtjüdische Ehefrau fehlt. Im Brandenburger Landesarchiv wird er fündig, im Gedenkbuch der Opfer der Judenverfolgung. „Bromberg, Alice, deportiert am 26.8.42, Theresienstadt.“ Ernst Bromberg hat dasselbe Deportationsdatum, Alice ist ihrem Mann gefolgt. Er starb fünfeinhalb Monate später.

Wolfgang Knoll sitzt in seinem Büro über den Akten der Toten. Der Holocaust treibt ihn um seit seinem 20. Lebensjahr. Ein Buch, „Das Brandopfer“ von Albrecht Goes, die Geschichte einer Fleischersfrau, die Juden hilft, gab den Anstoß. Er nimmt das Bändchen aus dem Regal, schweigt. Warum er nicht aufhören kann zu suchen nach den Verschollenen? Seine Stimme verliert sich in einem gepressten Ton, tränenerstickt. Er sagt: „Vielleicht, weil ich Deutscher bin?“ Er verabschiedet sich beinahe entschuldigend: „Wissen Sie, ich halte mich eigentlich für ziemlich stabil . . .“ Wolfgang Knoll hat viel mit den Tränen gekämpft an diesem Morgen.



Die Auftraggeber

Vor der Nummer 8 in der Salzburger Straße schlägt Gunter Demnig mit Vorschlaghammer und Meißel ein langes Stück kleiner Pflastersteine heraus und schabt den Sand darunter weg. Zwei Kellen Beton, „der bindet sofort ab“. Er bettet fünf Steine nebeneinander: Alfred Goldstein, Lothar Herbst, Else Gervais, Vally Löwenberg, Sophie Rosenfeld. Wasser aus dem Kanister rinnt über die polierten Flächen, Schnellbinder obenauf, einige der gelösten Pflastersteine drumherum: kleine Dreiecke, Vierecke, schräge Winkel. Mit dem Handfeger kehrt Demnig das Betonpulver weg. Nochmal Wasser drüber, Erde drauf. Jemand geht vorbei, bleibt stehen und liest. Nach und nach kommen die Hausbewohner dazu. Die Initiatorin weint still.

Landhausstraße 37, ein Jugendstilbau mit weißer Fassade, die Hausgemeinschaft wartet schon. Seltsam angespannte Stimmung. Sechs Steine hat man finanziert, macht 570 Euro. Man teilt sich die Kosten zu zehnt. Betonierter Untergrund, Demnig holt den großen Schlagbohrer. „Vielleicht ist das so hart, weil sich im Haus einer gegen die Aktion stemmt“, sagt eine Bewohnerin. Der soll gesagt haben, er ziehe aus, wenn Stolpersteine verlegt werden. Der Verweigerer erscheint samt Frau. Es gibt Diskussionen. „Ich habe gesagt, es wäre schön, wenn das Haus unpolitisch bleiben würde“, rechtfertigt sich der Mann. „Meine Kinder werden nicht so erzogen, dass sie in dieser Gesellschaft ständig Schuldgefühle haben müssen.“ Er habe Angst vor Anschlägen durch Neonazis. „Weil wir ganz oben wohnen, sind wir besonders betroffen, was Brände angeht.“ Typisch deutsch, findet er, jetzt werde er gleich „in eine Schublade gesteckt mit den Nazis“. Marcelo Miodownik hat die Steine bestellt. Sein Eltern waren Überlebende des Holocaust. Er lässt sich mit Demnig fotografieren, beide kauern neben dem Denkmal. Hinter ihnen wird weiter gestritten.

Nassauische Straße 54, zehn Uhr. Von Ferne hört man Demnigs Hammerschlag, ein paar Häuser weiter verlegt er einen Einzelstein. Der Schauspieler Hans-Jürgen Schatz zeigt Knoll, wo er Wasser für den Beton holen kann. Schatz hat die Steine in Auftrag gegeben, ein persönliches Anliegen. Die Mitbewohner hat er informiert. Neun Steine werden im Quadrat verlegt, in der Aussparung einer Platte, ein bisschen schräg, schwierige Anordnung. Gunter Demnig gefällt das, er lächelt. „Wieso macht Ihr das?“, fragt eine Passantin. „Die Nazis sind genügend auf denen rumgetrampelt.“ Ein Bewohner fragt Schatz: „Wie ist die Resonanz auf Ihre Aktion?“ „Sieben Rückmeldungen.“ „Dann kommt die achte von mir.“

Grolmannstraße 28. Ein Mieter warnt: „Kanalarbeiten, passen Se uff, hoffentlich machen die nich allet kaputt.“ „Dann müssen Se den wieder verlegen“, sagt Wolfgang Knoll. Ein Stein für Hugo Behrendt, Rechtsanwalt, Notar, musste arbeiten als Schneeketten-Montierer.

Wielandstraße 30. Sieben Steine, links ein Blindstein mit einem Klecks Pink, kommt später dazu: Richard Wilde, ermordet in Sachsenhausen, Schriftsteller. Die Hausgemeinschaft finanziert 20 Steine für das Doppelhaus. Zwei Jahre Vorbereitung. Eva Milotzki, bald 80, sieht zu. 39 Jahre hatte sie hier ihren Tante-Emma-Laden. Wie viele aus ihrer Familie wurden von Nazis getötet? Sie beginnt an einer Hand zu zählen: „Tante Rose, Rudi, Werner, Emil, Evelyn ...“ Zehn. Mutter, Geschwister, Tanten, Onkel, Cousin, Cousine. Sie lässt sich mit dem Sohn fotografieren, lehnt den Kopf an seine Schulter. Sie sagt: „Ich hatte als Kind die Möglichkeit, mit dem Schiff nach Amerika zu fliehen. Ich bin geblieben, aus Heimatverbundenheit.“ Einer der Anwohner geht vorbei. Eva Milotzki deutet auf die Stolpersteine. Sie sagt: „Gucken Sie mal, wir sind ein tolles Haus.“

Arte sendet am kommenden Sonntag, 13 Uhr, den Film „Stolperstein“ von Dörte Franke. Sie hat Gunter Demnig begleitet.

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